Erstellt am: 18. 7. 2011 - 16:11 Uhr
Yahoos und Houyhnhnms
"Ich entsinne mich", antwortete er, "zwei phantastische Erzählungen ohne Missfallen gelesen zu haben. Die 'Reisen des Kapitäns Lemuel Gulliver', die viele für wahr halten, und die 'Summa Theologica'."
Ein Klassiker im Sommer: Gebucht. Mit Clemens Setz "Gullivers Reisen" lesen. Jeden Montag und Donnerstag auf fm4.orf.at/clemenssetz
insel verlag
So sagt es der Mann aus der Zukunft in J. L. Borges' Geschichte Utopie eines müden Mannes. Und in der Tat, der größte Luxus beim Lesen dieses alten Buches ist, es mit einem kleinen, eigenartigen Teil seines Bewusstseins für wahr zu halten. Als Kind kann man es noch, aber als Erwachsener kommt man sich albern vor. Dabei hat man es nicht einmal verlernt, man wendet es immer noch z.B. bei Pornografie an, dieses Gefühl, dass man einen wahren Bericht über Vorgänge erhält, wie sie wirklich stattfinden könnten, wobei ein einziges bewusstes Blinzeln die Illusion zerstören kann.
Der Einstieg ins Buch, der oft überblättert wird, hilft uns dabei. Zwei Briefe, der eine vom angeblichen Herausgeber des Reiseberichts, einem gewissen Richard Sympson, der andere von Kapitän Gulliver selbst. In Sympsons Brief heißt es: "Das ganze Werk hat aber den Anschein der Wahrheit, und der Verfasser zeichnete sich in der Tat so sehr durch Wahrhaftigkeit aus, dass es bei seinen Nachbarn in Redriff gleichsam zum Sprichwort wurde, zur Bekräftigung einer Sache zu sagen, es sei so wahr, als ob Mr. Gulliver es gesagt hätte."
Auf dieses Geleitwort folgt ein wütendes Antwortschreiben Gullivers, in dem er Sympsons Eingriffe in sein Originalmanuskript bejammert und außerdem erklärt, weshalb er die von Sympson als politisch subversiv eingestuften Passagen überhaupt nicht als solche begreifen möchte.
Obwohl es jeder selbst lesen kann, werde ich den ganzen Absatz hier zitieren, weil er sehr wichtig ist, er ist im Grunde der Anfangsakkord des Buches, von dem aus die ganze Geschichte ausstrahlt:
"Aber ich bitte Sie, wie könnte das, was ich vor so vielen Jahren und in einer Entfernung von über fünftausend Meilen in einem anderen Reich geäußert habe, auf irgendeinen der Yahoos angewendet werden, die jetzt, wie es heißt, über die Herde herrschen, zumal ich das zu einer Zeit sagte, da ich kaum das Unglück bedachte oder befürchtete, wieder unter ihnen zu leben? Habe nicht vielmehr ich den meisten Grund, mich zu beklagen, wenn ich sehe, wie eben diese Yahoos von Houyhnhnms in einem Wagen gefahren werden, als ob die letzteren unvernünftige Tiere und die ersteren die denkenden Geschöpfe wären?"
insel verlag
Wer sind die Yahoos? Es müssen Leute sein, die es in England gibt, wo Gulliver zurückgezogen auf dem Lande lebt. Und Gulliver bezeichnet sich selbst auch als Yahoo und er erwähnt sogar "zwei entartete Houyhnhnms, die ich in meinem Stall halte". Deren Wiehern, sagt er, ziehe er allen Lobreden seiner eigenen Gattung vor.
Der Anmerkungsapparat, der uns Leser – wie beinahe alle Anmerkungsapparate in Klassikereditionen – für vollkommene Idioten hält, sagt, der Brief von Gulliver "setzt die Kenntnis namentlich des vierten Buches weitgehend voraus". Bullshit. Er stellt unseren Blick ein, wie wir ihn für die Lektüre des Buches brauchen. Ohne diese Blick eines mürrischen Einsiedlers, der in etwas rätselhafter Weise von Yahoos erzählt, vor deren Verrichtungen und Institutionen er einen unvorstellbaren Ekel empfindet, könnten wir die Verkleinerungen und Vergrößerungen und Vergeistigungen, die auf uns warten, nicht in angemessen literarischer Weise für wahr halten. Ohne ihn wären die Reisen Gullivers nur eine Sammlung fantasievoller Märchen mit Moral und nicht der große Versuch über die Menschheit, der am Ende in nacktes Entsetzen übergehen musste.
Man probiere diesen Blick vor Beginn der Lektüre an seinen Mit-Yahoos aus, so wenig greifbar und praktikabel er an dieser Stelle der Reise noch erscheinen mag. Albert Camus erwähnt an irgendeiner Stelle seines Werkes einen Mann hinter einer Glasscheibe, der in einen Telefonhörer spricht und dabei lächerliche Gesprächs-Gebärden aufführt, die der Gesprächspartner gar nicht sehen kann. Camus stellt sich sofort die Frage: Warum lebt dieser Mann? Wie rechtfertigt man etwas derart Absurdes? Die Erfindung der Mobiltelefone hat bewirkt, dass die zuckenden Gliederpuppen, die Telefon-Yahoos, aus ihren Glasgehegen ausgebrochen sind und nun überall auf der Straße unterwegs sind. Stärken wir an ihnen unser Yahoo-Bewusstsein, bevor wir uns dem Anfang dieser Geschichte zuwenden: dem 4. Mai 1699, als der Wundarzt und Gelehrte Lemuel Gulliver von Bristol in der "Antilope" abfährt ...
Am Donnerstag gehts weiter, mit den nächsten Seiten von "Gullivers Reisen", wo Captain Gullivers Schiff in Bristol ablegt.