Erstellt am: 27. 5. 2011 - 18:42 Uhr
Primavera Sounds 1
Die Ramblas sind Konsumterror pur. Es wird jedes Jahr schlimmer. Der Stadtteil wirkt wie ein Experiment, wieviele Touristen und Billigkleidungskaufhäuser kann man in ein Areal stopfen kann.
Vor den Kaufhäusern sitzen verdrogt und hungrig aussehende Technokrusties, die mit ihren Hunden betteln, afrikanische Jungs, die gefälschte Louis-Vuitton-Handtaschen verkaufen. Es ist eine besonders obszöne Kombination von Elend und Luxusanmaßung. Meine Obdachgeberin ist blendent amüsiert über meine Panikattacke, sie faselt was von Disney Land für Easy-Jet-Touristen und meint, dies sei eine gute Einstimmung auf die Abende, die mir noch bevorstehen.
Auf der Plaça de Catalunya protestieren Menschen, denen das auch alles zu viel geworden ist, und für ein anderes Wirtschaftssystem.
natalie brunner
Ich beschließe mein inneres Bild von urbaner Apokalypse zu ändern, das Escape from New York Szenario durch die Ramblas von Barcelona und die Plaça de Catalunya zu ersetzen. Keine Gangs und brennenden Mülltonnen, die in einer finsteren Stadt umherschleichen, sondern sonnenverbrannte Konsumzombies, die von einem H&M zum nächsten wälzen, und Menschen, die sich dem Wahnsinn entgegenstellen und von der Polizei niedergeknüppelt werden.
- Hanna Silbermayr über die Ereignisse auf der Placa de Catalunya
Ich schwöre, die Ramblas niemals mehr zu betreten, die Wohnung nur direkt in Richtung Primavera zu verlassen, um mich unter 40.000 Gleichgesinnten so richtig wohl zu fühlen.
Als erstes werde ich heute das Racist sehen. Können die Electro Rap Hipster mich heilen? Haben sie ähnliche Angstzustände wie ich? Sind sie ein praktischer Scherz oder ein zynischer, durchaus substanzieller Kommentar zur Konsumdegeneration? Combination Pizza Hut and Taco Bell deutet auf Ersteres. Ich erspare euch an dieser Stelle diese Nummer, weil diese etwas unbekanntere Perle bringt den Albtraum auch ganz gut auf den Punkt.
Live ist das Racist leider kläglich gescheitert, es gab Echo, wo keines sein sollte, und die Ich-fick-den-Boden-Tanzmoves konnten das entertainment level nur mäßig heben.
natalie brunner
Aber zurück zum Eingang.
Indiekostümfest nennt meine Obdachgeberin das Primavera, während wir 90 Minuten auf unsere Pässe warten und viel Zeit haben darüber nachzudenken, was wir hier eigentlich tun.
natalie brunner
El Pais sieht das ganze natürlich in viel glorioserem Licht: „Die Welt schaut dieser Tage nach Barcelona, es ist der strahlende Mittelpunkt der Indie-Rock-Welt.“ Die Mädchen um mich herum, bereit ins Epizentrum der Indie-Rock-Welt eingelassen zu werden, sind sonnenverbrannt, sprechen Englisch oder Schwedisch und haben ganz viele Fransen an ihren Kleidungsstücken. Was ist das hier für ein kulturelles postnationales Konglomerat? Individualität en Masse. Ich sehe so gut wie keine Band-T-Shirts und nehme zur Kenntnis, dass bereits im Vorfeld Odd Future aka Wu Tang Clan 2.0 und die Fleet Foxes zu den Helden des Festivals ausgerufen worden sind. Während ich auf mein Presse-Goodie-Bag warte, hoffe ich, dass wir hier alle in der Schlange Stehenden indie genug sind, um ein paar Stunden an der Plaça de Catalunya vorbeizuschaun.
natalie brunner
Eine brillante Idee des Primavera war es, Plastikkarten als Teil der Eintrittskarten auszugeben, die man sich mit Guthaben aufladen kann, so dass man Las Vegas Style vollkommen den Bezug zu Geld verliert. Ich kam so in den späten Neunziger Jahren zu einem sehr vergnüglichen Wochenende im oben erwähnten Las Vegas, weil meine Karte sich entmagnetisierte und ich beim Auschecken gar nichts bezahlte. Beim Primavera zahlt man vorab, was auch zu eine Katastrophe für die Cash-Flow-Virtualisierer führt, weil das System zusammenbricht und über Stunden durstende Menschen an den Bars Tobsuchtsanfälle de Luxe hinlegen: Ich war eine von ihnen und habe Zeche geprellt, 2 Whiskey Cola zu 15 Euro wurden als angewandte Kapitalismuskritik nicht bezahlt.
Aber dann sah ich Big Boi und alles wurde gut...