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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

27. 5. 2011 - 19:00

Primavera Sounds 2

Big Boi, PIL, Suicide, Grinderman und die Flaming Lips

Donnerstag Abend, 21 Uhr. Geschwächt taumle ich an Jarvis Cocker vorbei. Ich bin zu schwach, um ihn um ein Fanfoto zu bitten und ich habe es eilig. Big Boi, fünfzig Prozent der psychedelischen P Funk Dirty South Boys Outkast, ist ohne Andre 3000 am Start. Big Boi spielt fast nur Outkast-Nummern. Er weiß, wie man die Indienation begeistert. Auf So fresh and so clean folgt Ms. Jackson. Auf der monumentalen Bühne ist gar nichts außer dem DJ und dem Back Up MC, keine Dekoration, minimalste Lichtshow, und Big Boi geht die Sache extrem gelassen und leger an und es funktioniert. Der Mann muss nicht den Entertainer runterreißen, weil er rappen kann. Als er schließlich doch General Patton eine Nummer von seinem Solo-Album Sir Lucious Left Foot: The Son Of Chico Dusty spielt, muss er feststellen, dass er mit Call-and-Response-Spielchen auf verlorenen Posten steht. Dennoch begeht er den Wahnsinn, sich Mädchen für Tanzeinlagen auf die Bühne zu holen. Ein Booty-Bounce-Kontest ausgeführt mit jungen, dünnen Mädchen in Holzfällerhemden hat den unangenehmen Beigeschmack von Kindesmissbrauch. Ich schließe die Augen und öffne sie erst wieder, um bei Ghetto Music und B.O.B.

primavera sounds

Die Obdachgeberin geifert über den Missbrauch von Hip Hop als kulturelle Sideshow beim Primavera und schüttelt minutenlang den Kopf darüber, dass bei einem Indiefestival aus Hype-Gründen Odd Future den Menschen als Headliner vorgesetzt wird. Nicht dass wir uns falsch verstehen, ich werde natürlich bei Odd Future auf einer Flasche Vic MediNight gemischt mit Whiskey in der ersten Reihe stehen.

Wir bahnen uns den Weg durch das Areal zu PIL. Je näher wir der Bühne kommen, desto mehr wirkt das ganze Gelände wie eine nicht fertig gebaute Freizeitanlage. Big Boi im Rücken dreht durch und spielt „We will rock you“. Ich erwarte mir gar nichts von dem PIL Konzert und spekuliere darauf, John Lydon als geriatrische Mumie statisch auf der Bühne zu sehen, werde aber eines Besseren belehrt. Mr. Lydon ist auf seltsame Weise alterslos und beschimpft in altbekannter Manier sein Publikum als emotions- und regungslose Säcke:
„I need some audience response - this is fucking terrible.“

natalie brunner

PILs Gejaule versetzt mich nach einigen Nummern in flirrende Unruhe und ich beschließe meine Kräfte für Grinderman zu sparen. Zu trinken gibt es nichts, nur schreiende Menschen an der Bar, die mit ihren nicht funktionierenden Trinkkarten vor den Kellnern herumfuchteln. Diese banalen Widernisse sind vergessen, sobald Grinderman zu spielen beginnt. Die kathartisch brachiale Größe von Nick Cave funktioniert immer und unter jeden Umständen.

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Fassungslose Menschen mit offenen Mündern rings um mich, und ich nehme auch eine Einsicht mit in meine kleine Welt: Alter bringt keine Klärung, keine Ruhe, die Verwirrung wird nur schlimmer mit zunehmenden Lebensjahren, weil man sich im Gegensatz zur Teenagerzeit beginnt ernstzunehmen. Nick Cave verbeugt sich tief vor Suicide, spielt sogar eine ihrer Nummern an und nimmt uns 15.000 Zuseherinnen das Versprechen ab jetzt zu Suicide zu pilgern. „Don't go and see the Falming Lips“.

Suicide ist groß wahr und schön. Es sind bei weitem nicht die 15.000, die Nick Cave hinbeorderte, vor der Bühne, aber es ist eine Ansammlung von ehrfürchtig zuckenden Psychopathen, die gebannt verfolgen, wie Martin Rev sein Keyboard mit Fäusten und Ellbogen bearbeitet. Allen Vega ist mal da mal nicht, verlässt die Bühne, läuft orientierungslos von A nach B. Martin Rev geht, wenn Alan Vega verschwindet, zum Bühnenrand und zuckt mit den Schultern und es wirkt nicht inszeniert.

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Suicide sind genau so, wie ich es phantasiert habe. Es geht um die Erzeugung von großem, alles wegwischendem Lärm, wie wir, das Publikum, darauf reagieren, kümmert die beiden nicht im Geringsten.

Ich breche das Versprechen, das Nick Cave abverlangt hat, und gehe zu den Flaming Lips, bereit für eine schwachsinnig schöne Alice-im-Wunderland-Kinderparty. Wayne Coyne kommt vor der Show auf die Bühne und warnt uns vor dem Strobo und seiner Space Bubble, mit der er über unsere Köpfe laufen wird.

natalie brunner

Dann beginnt das Reizbombardement, Konfetti, Luftballons, eine Armee von völlig ausfreakenden Alice-Klonen an der Bühnenseite und auch ich stehe da und versuche Luftballone zu erhaschen und brülle „She uses Vaseline“.

natalie brunner

Glücklich und darüber nachdenkend, ob die Flaming Lips emotionale Traumata heilen können, falle ich in mein Bettchen.