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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

21. 5. 2011 - 20:44

Journal 2011. Eintrag 103.

Bullshit Bingoing, Going, Gone. Die Angst vor der Reflexion der Popkultur.

2011 ist Journal-Jahr - wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Das heißt: Ein täglicher Eintrag, der als Anregungs- und Denkfutter dienen soll, Fußball-Journal '11 inklusive.

Hier finden sich täglich Geschichten und/oder Analysen, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo finden konnte; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute mit einem der Abschluss-Diskussion des Bob Dylan Symposiums Vienna entnommenen interessanten Details zur Kultur-Rezeption an sich.

Das ist der bereits dritte Eintrag zum "Bob Dylan ist 70 und die Welt feiert ihn ab"-Schwerpunkt.

Teil 1, Journal-Eintrag 96: Die dritte Generation der Dylan-Rezeption und was das mit "Ja, Panik" und dem "Nino aus Wien" zu tun hat.

Teil 2, Journal-Eintrag 101: Angst vor Bob Dylan.

Irgendwo war Veranstalter Eugen Banauch ein spöttischer Kommentar untergekommen, den es zu seiner Veranstaltung, dem am Samstag zu Ende gegangenen Bob Dylan Symposium Vienna gab: eine optimale Spielfläche für Bullshit-Bingo wäre das.

Als Leiter des finalen Podiums thematisierte er das und stieß damit eine kurze, intensive und durchaus prinzipielle Debatte an.

Nun ist das Bullshitting eine uralte Kunst, die wohl schon in den griechischen Hochkulturen oder noch früher üblich war, einfach eine menschliche Verzögerungs-/Abwehr-Strategie.
Das Bullshit-Bingo an sich ist nun auch schon fast volljährig, hat sich aber hierzulande erst vor kurzem festgesetzt; zuletzt war es hier im März Thema, anlässlich eines Wahlabends.

Nun ist es eigentlich absurd irgendeiner Fachtagung, die Tatsache, dass irgendwer irgendwann sicher die bewährten Phrasen dieser Sparte verwenden würde, zu einem Vorwurf umzumünzen. Zumal die Experten die eigenen Catch-Phrases meist schon ironisch gebrochen verwenden.
Andererseits: von einem "eh alle blöd!"-Kommentar zu erwarten, dass er weiter als bis zur eigenen Nasenspitze denkt, ist auch ganz schön doof.

Die Reflexions-Verbotszone im Angstgebiet der Abgehängten

Die zentrale und interessante Frage dahinter ist aber eine ganz andere. Und es war gut, dass sie von einem Schweizer Konferenz-Teilnehmer erstformuliert wurde. Wo denn die recht exklusiv in den deutschsprachigen Ländern vertretene Gehässigkeit jeglicher intensiv-reflexiven Beschäftigung ihre Ursache hätte; im angloamerikanischen (wie auch im frankophonen) Bereich (und das ist bei einer Dylan-Konferenz deutlich sichtbar) ist ein solcher Ansatz nämlich recht unbekannt. Dort sind die Landsleute, die "man studieren hat lassen" nämlich die volkswirtschaftlichen und auch denkerischen Hoffnungsträger, deren Überlegungen schon gefördert werden müssen. Im GAS-Bereich, sagte der Schweizer Kollege, wäre eine hassbeseelte, müffelige Vorwurfs-Kultur daheim, die jegliche Untersuchung als grotesk überflüssigen Luxus abtun würde.

Nun steckt vor allem, da war sich dann das um Erklärungen bemühte, aber kaum fündige Podium einig, viel Angst dahinter; Angst abgehängt zu werden, Angst etwas nicht ebenso verstehen zu können, wie die die sich (Luxus!) damit beschäftigen können, indem sie G'studierte sind, die ja von "uns" finanziert werden.
Wo also in den angloamerikanischen Kulturen in Nachforschung jeglicher Art investiert wird, weil die Hoffnung, was Interessantes erfahren zu können und die Neugier als bedeutsamer eingeschätzt werden, sind die deutschsprachigen Kulturen da deutlich defensiver, fast schon selbstbeschädigend eingestellt. Wer etwas Neues oder Anderes angeht, hat sich primär einmal zu entschuldigen und dann, wenn es institutionell gesehen nicht zu vermeiden ist, zu dauerrechtfertigen - was aber keinen Einfluss auf die prinzipielle Dauerinfragestellung der Sinnhaftigkeit hat. Die kommt als Gratis-Draufgabe dazu, ungefragt und - selbstverständlich, woher hätte man das denn auch erfahren können, unreflektiert.

Panikzustände wegen scheinbarer Luxus-Debatten

Die einzige Möglichkeit dieses System der altösterreichischen (und offenbar als altdeutschen und altschweizerischen) Trollerei und Nörgel-Kultur hintanzuhalten ist der Faktor Zeit. Wer lange genug beharrt, wer sich auf sein Ding gnadenlos und unbeugsam draufsetzt, der bekommt nach Jahren, Jahrzehnten, manchmal Jahrhunderten auch das populistische Plazet.

Im konkreten Fall ist es noch eine Spiralverschlussdrehung schlimmer, das merkte eine deutsche Teilnehmerin an; interessanterweise nicht in der Diskussion, sondern nur in der informellen Murmelgruppe ihrer Umgebung - ein Umstand, der mit der natürlich hochkant männlich dominierten Wissenschafts-/Symposiums-Kultur und darüber hinaus mit dem Phänomen der überproportional männlichen Dominanz im Spezial-Fall Dylan zu tun hat; das wäre eine ganz andere, auch sehr interessante Geschichte.

Im konkreten Fall handelt es sich, zumindest in einigen Zuschreibungen, nämlich um ein Popkultur-Thema.
Und da geraten die Ängstlichen, die Nörgler, die Untersager der öffentlichen Reflexions-Prozesse, die sprachlosen Spürer, die sich sowieso so fürchten diskursiv dauerabgehängt zu werden, und eh überhaupt nix mehr mitzukriegen, zu blöd für alle politischen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Prozesse zu sein, die wichtig daherkommen aber an ihnen vorbeilaufen, hin- und herflirren wie Mosquitos, die einfach nicht zu derkleschen sind, dann in besondere Panik.

Pop den Besser-Verstehern überlassen - das geht gar nicht

Wenn sie sich nämlich sogar dann, wenn es um Pop, also Populäres geht, von den Besser-Verstehern, den Profi-Checkern erklären lassen müssen, was daran so lässig und speziell ist, dann vertreibt sie das aus dem ureigensten Bereich.

Christiane Rösinger über Erbsenzähler, Komplettisten, Archivare unter den Dylanologen.

Lange haben das Medien und Wissenschaft auch dementsprechend gehandhabt: Pop-Themen wurden von den Neffen und Nichten der Chefredakteure erledigt, das war der Spielplatz für den Nachwuchs, weil "das kann jeder". Diese mittlerweile mit den alten Granden des 20. Jahrhunderts ausgestorbene Herangehensweise ist aktuell zwar Geschichte, in den Köpfen des ängstlichen Teils des Mainstream-Publikums aber nach wie vor präsent. Das ist das, was alle können und alle wissen.

Dass es in einer fragmentierten, mit Spezial-Interessen und Detailwissen zugemüllten Welt selbstverständlich in jedem Bereich, egal wie elitär, wie breit, wie verpoppt oder verpuppt er ist, immer Menschen geben wird, die ein Ding besser betrachten und erklären können als andere, liegt an sich auf der Hand.
Dem steht aber die Schimäre von der gleichmacherischen Popkultur, die jedermann/-frau gleichermaßen berührt, entgegen.

Die Empörung der Entrechteten

Deshalb ist die Empörung derer, die sich durch Reflexion und Beschäftigung entrechtet und abgehängt fühlen, im Fall Dylan größer als im Fall von abgehangener Hochkultur wie Shakespeare oder Brecht. Obwohl: Für die jüngere Generation ist Dylan, auch das war am Samstag zu lernen, eine Figur der Zeitgeschichte, jemand von dem man wie von Jim Morrison oder John Lennon erwartet gefälligst tot sein zu sollen, um sich ohne aktuelle Geschehnisse kümmern zu können.

Mit anderen Worten: Dylan ist, ebenso wie die anderen Über50jährigen der Popkultur, auf dem Weg zum nächsten Brecht. Über den kann in Österreich ja auch erst seit 20, 30 Jahren halbwegs wertfrei diskutiert werden.

Wirklich schlimm und wirklich hysterisch wird es aber dann, wenn eine öffentliche Institution bzw. Bildungseinrichtung sich erlaubt auf wirklich zeitgenössische Phänomene einzugehen. So gibt es im angloamerikanischen Sprachraum (durchaus unaufgeregte) Tagungen, die sich mit Lady Gaga oder Paris Hilton beschäftigen; und auch im deutschen Sprachraum sind Dissertationen oder Conference-Papers durchaus üblich.

Das in einen deutlich sichtbareren Kontext zu heben, und abseits der engeren wissenschaftlichen Beschäftigung zu thematisieren, erzeugt entsprechend aufkreischenderen Gegenwind.

Lady Gaga geht echt überhaupt nicht! Kreisch!

Das nimmt dann denen, die sich eh schon von Popkultur-Expertise eingeengt fühlen, nämlich die Luft zum Atmen. Ich darf in diesem Zusammenhang auch an die Aufgeregtheit, die selbst in einem halbwegs aufgeklärten Forum wie dem unseren, das sich deutlich von der Troll- und Stänker-Kultur etwa der diesbezüglich völlig besabbelten Standard-Forums abhebt, herrscht, wenn irgendwo ein Halbsatz auftaucht, der andeutet Lady Gaga als Phänomen ernst zu nehmen.

Als ob es hier eine Linie, die der "Feind" nie überschreiten dürfen, zu verteidigen gelte, werfen dann eine seltsame Koalition von Defensiv-Denkern ihre Nebelgranaten aus Wut und Verzweiflung. So wie es ihre Vorgänger-Generation im Wüten gegen die Ernstnehmung von Madonna tat. Die ist mittlerweile zumindest anerkanntes Forschungs-Objekt für weibliche Selbstermächtigung. Dass Frau Gaga hier nur anknüpft und deshalb selbstverständlich auch besprech- und reflexierbar ist, geht sich für den von wirren Ängsten geplagten Pop-raus-aus-der-Popkultur-Reklamierer aber trotzdem nicht aus.

Informelle Denkverbote als Kulturblocker

Dieses informelle Verbot über Gaga-Phänomene (die ja allesamt einer Art-School-Kultur entstammen) intensiver als nur auf dem Boulevard-Level, den die Trolle einander und allen anderen zugestehen nachzudenken, ist im übrigen der Grund dafür, dass solche Phänomene im deutschsprachigen Raum abgehen.

Denn der Vorteil der Offenheit des angloamerikanischen Neugiers-, Hoffungsträgers- und Repräsentations-Ansatzes im Gegensatz zum deutschsprachigen Ängstlichkeits-Ansatzes liegt in der Kreation von intensiverer und schillernderer Kultur-Produktion. Deshalb ist auch die Aufteilung zwischen musealer und zeitgenössischer Kultur so wie sie ist; und das nicht zu unserem Vorteil.

Denn natürlich ist die Angst vor der Reflexion ein Hemmer und Hinderer. Selbst wenn es sich um die scheinbare Kampflinie "Pop" handelt.