Erstellt am: 14. 4. 2011 - 18:38 Uhr
Re:publica XI: Verantwortung und Herrschaft
Meine Güte, ist das alles voll hier. Wer sich nicht frühzeitig in viel zu lange Schlangen stellt, hat keine Chance, die schlechte Luft in den viel zu kleinen Räumen ein- und kaum mehr ausatmen zu können.
So in etwa lautet meine Ausrede, am zweiten Tag der Re:publica XI gerade einmal eineinhalb Vorträgen zugehört zu haben: Domscheidt-Bergs Erklärungen zur Wikileaks-Entwicklungsstufe Open Leaks und meinen eigenen halbgaren, schlaftrunkenen Ausführungen zum Thema Macht und Herrschaft, die ich über einer Pizza meinem Auftraggeber von der privaten Konkurrenz habe aufdrücken wollen.
Andreas Chudowski_laif
Denn ich habe eine ferne Bekannte wiedergetroffen, die - ja! - über Anonymous promoviert. Zwischen Domscheit und Berg erklärte sie mir knapp, wie "jene Praktiken der Selbstthematisierung bzw. -vermarktung [...] Teil der neoliberalen Gouvernementalität [sind] und [...] perfekt in Gesellschaften, in denen Arbeit genannt wird, was früher Freizeitvergnügen war, passen: Man muss kreativ und kommunikativ, konkurrenzorientiert und kalkulierend zu sein. Doch im biopolitischen Kapitalismus des globalen Empire macht sich die Multitude schon breit und verweigert die Gesichtskontrolle: Anonymous."
Um was es geht: Natürlich um irgendwie all das, was mich gerade am meisten interessiert: Wie aus Macht Herrschaft wird und was das für die Rolle für Social Media, Anonymous usw zu bedeuten hat.
Gestern, das fand nicht mehr in meinen vor Ort geschriebenen Tagebucheintrag, besuchte ich nämlich (statt Freibier) den Vortrag Power in the Digital Age von Ulrike Höppner. Die Politikwissenschaftlerin versuchte darzustellen, wie Macht entsteht, welche Komponenten dafür notwendig sind und wie eben Social Media helfen können, die Voraussetzungen für Macht zu schaffen.
Macht ist, Veränderungen herbeiführen zu können. Macht ist Handeln in der Gruppe. Macht ist, produktiv Imagination umsetzen zu können. Wer sich eine Veränderung vorstellen kann, wer die Mittel und die Fähigkeiten dazu hat, sie zu erreichen und wer sich gewiss ist, sie überhaupt auch erreichen zu können, der kann potentiell Macht entwickeln.
Social Media helfen nun Höppner zufolge, diese Imaginationen entwickeln und ein Vertrauen in ihre Erreichbarkeit entwickeln zu können: Die Leute in Ägypten machen etwas vor, zeigen, dass Menschen eine andere Rolle spielen können, dass Frauen plötzlich etwas zu sagen haben, dass Zugehörigkeiten nicht wichtig sein müssen, usw - und dadurch entwickele sich die Vorstellung, auch selbst aktiv werden zu können. "Es gibt keinen äußeren Grund, es kann sich wieder ändern. Aber es hat sich die Vorstellung gebildet: es geht auch anders."
(Medien)Technologie spielt dabei nur eine Ermöglicherrolle: Über (nicht nur neue) Medien können Menschen ferne Vorgänge erfahren und neue Vorstellungen entwickeln. Wenn Technik die Diversifikation, die Dezentralisierung und den stetigen Wandeln befördert, dann befördert Technik indirekt damit auch die Entstehungschancen für Macht.
Technik ist für die Ermächtigung nur ein Hilfsmittel - und kann natürlich auch zur Entmächtigung beitragen (auf allen Seiten).
martin fritz
Leider kratzte der Vortrag auch nur an der Oberfläche, über Konsequenzen muss ich mir noch Gedanken machen (oder Höppners Arbeit im Netz finden).
Jetzt sitz ich in Workshop 3, ein Minizimmer in das tausend Leute strömen, um Carolin Wiedemanns Vortrag zu hören. Ich werde sie morgen interviewen und mit Sicherheit einen eigenen Blogeintrag dazu schreiben.
Sie setzt Theorien der "Multitude" auf das Aktivistenkollektiv Anonymous an und kommt zu sehr spannenden Schlüssel - oder zumindest Ansatzpunkten zu einer Kritik und besseren Erklärung des Phänomens Anonymous. Und die Gedanken gehen alle an, die sich Revolutionen und Umbrüche wittern und herbeitwittern wollen: Nur wer sich mit den Entstehungs-, Konsolidierungs- und Verfestigungsmechanismen von Macht auskennt, wer die jahrhundertealte Diskussion um Herrschaftsalternativen kennt, kann neue Formen von kollektivem Entscheiden (und Folgen?) entwickeln, ohne einfach in die große Falle zu treten, nach dem großen Aufruhr einfach so weiter zu machen, wie es zuvor schon schief lief.