Erstellt am: 27. 2. 2013 - 09:56 Uhr
Indignez-vous!
Diese Rezension von Hessels erstem Buch "Empört euch!" ist 2011 erschienen. Stéphane Hessel hat auch noch ein zweites Buch verfasst, "Engagiert euch" in dem er Anleitungen für eine bessere Gesellschaft gibt. Mehr zu "Engagiert euch" gibt es hier.
Das Buch "Empört euch!" hat sich in Frankreich mit dem noch viel schöneren Titel "Indignez-Vous!" (da steckt auch die "Würde" drin), in kürzester Zeit über eine Million Mal verkauft. Es ist eine wenige Seiten starke Streitschrift und wurde, vor allem in Frankreich, auch über Supermärkte und Kioske vertrieben.
AFP - Joel Saget
Stéphane Hessel wurde 1917 in Berlin geboren und wanderte schon im Alter von nur 7 Jahren mit seiner Familie nach Paris aus, seit 1939 ist Hessel französischer Staatsbürger. 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und schließlich ins KZ Buchenwald deportiert. Als er nach Bergen-Belsen überstellt werden sollte, gelang ihm kurz vor Kriegsende die Flucht vor dem sicheren Tod. Stéphane Hessel ist außerdem der Einzige noch lebende Mitverfasser der UN-Charta der Menschenrechte, die 1948 in Kraft trat.
Nun, am Ende seines langen und produktiven Lebens, ist es für Hessel an der Zeit, sein Erlebtes an die nachrückenden Generationen zu vermitteln. Vor allem die Abschiebung von Roma aus Frankreich, aber auch die Zwänge mit denen der entfesselte Raubtier-Kapitalismus die Menschen dieser Erde knechtet, sind für ihn Anlass gewesen einen Aufruf zur Empörung zu schreiben. Als Hessel in seinen 20ern war, überzog der Schrecken des Faschismus und des Nazismus die Welt. Heute aber, meint er, gäbe es noch immer zahlreiche Gründe zur Empörung:
„Das Interesse der Allgemeinheit muss vorrangig vor dem Interesse des Einzelnen sein, die gerechte Aufteilung des durch die Arbeitswelt geschaffenen Reichtums vorrangig vor der Macht des Geldes."
Das Motiv des Widerstandes – die Würde und die Empörung
„Wir, die Veteranen der Widerstandsbewegung und der kämpfenden Kräfte des freien Frankreichs, appellieren an die junge Generation, das Erbe des Widerstandes und die Ideale neu aufleben zu lassen und sie weiter zu verbreiten. Wir sagen Ihnen: „Nehmt es auf Euch, empört Euch!“ die Verantwortlichen der Politik, Wirtschaft, die Intellektuellen und die Gesamtheit der Gesellschaft dürfen nicht klein beigeben, sich auch nicht beeindrucken lassen durch die aktuelle internationale Diktatur der Finanzmärkte, die den Frieden und die Demokratie bedrohen.“
Ullstein
Für alle die noch immer behaupten, die Marktwirtschaft erschaffe die beste aller möglichen Welten, und die Hessel nun vielleicht gerne in die Kommunisten-Ecke stellen wollen, auch noch folgendes Zitat:
„Beim Sieg der Roten Armee über die Nazis in 1943 bei Stalingrad haben wir noch alle applaudiert. Aber als wir 1935 über die großen stalinistischen Vorhaben Kenntnis erlangten und uns bewusst war, dass wir offene Ohren gegenüber dem Kommunismus haben mussten, war die Notwendigkeit sich diesem totalitären System zu widersetzen, offensichtlich.“
Es ist fast schon bezeichnend, dass es einen Über-90-Jährigen braucht um der Welt in aller Deutlichkeit zu sagen, dass sie sich auf einem Irrweg befindet. Dass der Untergang des real existierenden Sozialismus noch lange kein Freifahrtschein für die Irrungen eines dubiosen Konstrukts namens „Marktwirtschaft“ ist. Dass die Märkte für die Menschen da sein sollen, nicht umgekehrt.
Wie kann eine Gesellschaft hinnehmen, dass ein Monatslohn 1000mal höher ist als ein anderer, bei gleicher Arbeitszeit? Wie kann eine Gesellschaft hinnehmen, dass etwa im Jahr 2001 (lange vor der Wirtschaftskrise), das reichste Fünftel der Weltbevölkerung 86% des gesamten Welteinkommens für Konsum ausgab? Wie kann eine Gesellschaft hinnehmen, dass knapp eine Milliarde Menschen laut UNDP hungern, während etwa genauso viele an Übergewicht leiden? Wie kann ein Ex-Finanzminister gar nicht so genau wissen, wie viele Millionen aus welchen Geschäften bei welchen Stiftungen liegen, während in Österreich immer mehr Menschen akut armutsgefährdet sind? Wie kann eine Gesellschaft hinnehmen, dass sich jährlich ein Gebiet so groß wie die Schweiz in eine Wüste verwandelt?
Alles für den Markt und für den Shareholder-Value?
Für die Handvoll Menschen die per asymmetrischem Erbe, Finanzeigentum an Unternehmen und generell wegen der Zügellosigkeit des Gewinnstrebens den Weltreichtum in den Händen von immer wenigen aufteilen? Für die Eliten deren Nachkommen jetzt schon alle system-relevanten Jobs, die natürlich auch die lukrativsten sind, besetzt halten?
Das mobile Kapital erzieht die Wirtschaftspolitik zur Verantwortung, nicht etwa umgekehrt. Und der Wirtschaftsnobelpreisträger Gary S. Becker verkündet in zynischer Hauptsorge: „Die Liebe zur Marktwirtschaft ist abgekühlt.“ Nun, es gibt auch Menschen, bei denen ist diese Liebe in offene Ablehnung umgeschlagen. Menschen, die nicht hinnehmen. Menschen wie Stéphane Hessel die meinen:
„Gleichgültigkeit ist die schlimmste Haltung“
Das hohe Alter von Stéphane Hessel zeigt uns zweierlei: Erstens, dass der Altersfaschismus von Jahreszahlen auf den gleichen Misthaufen der Geschichte gehört, wo auch schon Rassismus und Sexismus liegen. Und zweitens, dass es höchste Zeit ist, sich in Würde zu empören.