Erstellt am: 23. 1. 2011 - 16:24 Uhr
Entgrenzte Schwanengesänge
Pro/contra „Black Swan“
- Fiebertraum eines Bürokraten: „Black Swan“ ist das Paradebeispiel eines Designerfilms, findet Markus Keuschnigg
- Entgrenzte Schwanengesänge: Christian Fuchs findet den Film herrlich gruselig
Es ist mir in einer klugen Freundesrunde immer ein wenig peinlich, aber ich bin wohl ein ziemlicher (Hoch-)Kulturbanause. Eventuell liegt es daran, dass sich jugendliche Ausgehgewohnheiten mit schulischen Aufmerksamkeitsanforderungen nicht so gut vertragen haben und meine humanistische Bildung bedenkliche Schwachstellen aufweist.
Oder ich verdanke mein diesbezügliches Defizit einem exzessiven Film-, Fernseh- und Comic-Konsum von Kindheit an. Vielleicht ist auch der Rock'n'Roll schuld, der mich irgendwann eingesaugt hat und mit Opernhäusern und Theatersälen heftig kollidierte.
Jedenfalls sind wir keine guten Freunde, die edlen Künste und meine Wenigkeit. Ganz oben in der Skala der Bereiche, die mir bislang fremd geblieben sind, meilenweit vor der Klassik, der Neuen Musik und abstrakter Malerei, da rangiert der Tanz.
Ausdruckstanz, modernes Tanztheater, Impulstanz? Ich glaube, ich habe heute Abend keine Zeit, verschenkt die Karten doch lieber weiter. Ballett? Sorry, aber schlimmer sind nur Operetten und Pantomime-Vorführungen.
Dass ich jetzt trotzdem tagelang Melodien von Tschaikowski vor mich hinsumme und in meinen Träumen Ballerinas endlose Pirouetten drehen, verdankt sich einem Film, der seit seiner Uraufführung in Venedig für Aufsehen sorgt. Der die Meinungen spaltet, zwischen hymnischer Verehrung und spöttischer Kritik.
Centfox
Dabei steht Ballett nur scheinbar im Zentrum von "Black Swan", dieser Geschichte einer ehrgeizigen Tänzerin, die sich für ihren großen Auftritt unerbittlich schindet. Denn im Grunde verhandelt der amerikanische Ausnahmeregisseur Darren Aronofsky universelle Themen, die durch sämtliche seiner Filme geistern.
Der gebürtige New Yorker erzählt stets von Menschen, die sich für eine Obsession selbst verschwenden, an den Rand katapultieren, entäußern.
Aronofskys Kino ist ein Anti-Slacker-Kino, ein Tribut an die Getriebenen und Gehetzten, in dem jeder, der es sich allzu gemütlich macht im Kinosessel (oder in seinem eigenem Alltag), überrollt wird von schwitzenden, kämpfenden, oft auch im wörtlichen Sinn rasenden Charakteren.
Der manische Forscher in Aronofskys Low-Budget-Debüt "Pi", sein späteres Pendant im metaphysischen Science-Fiction-Epos "The Fountain", sie opfern alles einer kompromisslosen Erkenntnissuche. Die Protagonisten in "Requiem For A Dream" wiederum beugen sich der Sucht, werfen für den einen entscheidenden Kick ihre Existenz weg.
Nina Sayers, die gequälte Hauptfigur in "Black Swan", ist dagegen eine direkte Verwandte des tragischen Randy Robinson aus Darren Aronofskys vorherigem Streifen "The Wrestler". An der Oberfläche könnten die Umgebungen dieser Filme nicht unterschiedlicher sein, auf der einen Seite die Noblesse der etablierten Ballettszene, auf der anderen das White-Trash-Universum der Freistilringer.
Aber diese Unterschiede sind zweitrangig, denn letztlich erzählen beide Filme von der fatalen Anziehungskraft des Rampenlichts, von selbstzerstörerischem Ehrgeiz und dem Schrecken des verblassenden Ruhms.
Centfox
Auch stilistisch beschreitet Aronofsky zunächst den Weg weiter, den er mit dem rohen Realismus von "The Wrestler" begonnen hat. So wie die Handkamera dicht am geschundenen Leib von Mickey Rourke klebte, verfolgt sie nun die zurecht gefeierte Natalie Portman hautnah. Schweißperlen, Pickel, verwundete Haut, alles füllt die Kinoleinwand aus.
"Black Swan" setzt mit seinen Bildern malträtierter Füße, zersplitterter Zehennägel und knackender Knochen auch erneut auf schockierende Physikalität.
Was die beiden Filme neben ihren diametral gegensätzlichen Milieus aber wirklich unterscheidet, sind die Genres, in denen der Regisseur die Studien der Besessenheit positioniert. "The Wrestler" verharrt neben all den Reflexionen zu Künstlichkeit und Authentizität in der berührenden Form einer schlichten Countryballade.
"Black Swan" dagegen gibt sich schon sehr bald als stockdüsterer Psychothriller zu erkennen, als Verwirrspiel der huschenden Schatten, unterschwelligen Geräusche, mysteriösen Andeutungen.
Bei der Story der fragilen Nina, die um jeden Preis die Hauptrolle in "Schwanensee" tanzen will und vom Stress aufgefressen wird, ließ sich Aronofsky von Cronenberg, Lynch und Polanski inspirieren, gesteht er auch in Interviews. Man könnte diese Namen noch locker ergänzen durch Ikonen wie Ken Russell, Nicolas Roeg, Brian DePalma, Dario Argento.
Centfox
"Black Swan" kokettiert mit der Eleganz vieler Spät-70er-Thriller, mit ihrer omnipräsenten Sinnlichkeit, bricht sie aber mit der grobkörnigen Rauheit des Gegenwartskinos.
Das finale Abgleiten in den blanken Horror wird die Meinungen sicher spalten. Denn wo man sich als der Vernunft gehorchender Zuseher bei "The Wrestler" vor dem emotionalen Bombardement noch in die sozialkritischen Aspekte flüchten konnte, delektiert sich "Black Swan" geradezu an einer Schwindel erregenden Irrationalität.
Was Darren Aronofsky auch noch genießerisch ausspielt, wenn er einem nicht gerade in die Magengrube boxt, sind sämtliche Klischees, die sich zum Thema "leidende Ballettdiva" anbieten. Und hier wird es wirklich kontrovers. Natürlich erscheinen manche Plotpoints und Figuren abgedroschen, von der brutal unterdrückten Sexualität der Antiheldin über ihre frustrierte Mutter (spooky: Barbara Hershey), die die eigene gescheiterte Tanzkarriere sadistisch an der Tochter kompensiert, bis hin zum manipulativen Choreograf (exaltiert: Vincent Cassel), der arrogant die Fäden zieht.
Aber nicht nur, dass der Regisseur erfrischend eingesteht, sich ganz bewusst in Stereotypen zu suhlen, weil er vor dem Film keinerlei Ahnung von Ballett hatte (darf ich Ihre Hand schütteln, Herr Aronofsky?). Es geht in "Black Swan" auch weder um krampfhaft innovative Storyzugänge noch um Logik oder gar eine wirklichkeitsgetreue Schilderung des Ballerina-Alltags.
Centfox
Das wunderschön-schaurige Schwanenmärchen, das sich unter der zuckrigen Handkamera-Oberfläche verbirgt, stellt eben nicht Realität dar, sondern deren Verschwinden. Es ist ein Film, der Paranoia visualisiert, seelische Zerrüttungen und Schizophrenie.
Darren Aronofsky zeigt uns aber auch einen Ausweg aus dieser Zerrissenheit, die Nina Sayes/Natalie Portman in einen destruktiven Strudel treibt. Die lässige Tänzerin Lily (umwerfend: Mila Kunis) hat das Credo des Films verinnerlicht: Wer die wahre künstlerische Perfektion erlangen will, muss die Zügel lockerlassen, sich fallenlassen, offenbaren.
Lily schlägt sich in ihrem charmanten Hedonismus nicht mehr mit der tonnenschweren Dualität von Gut und Böse herum, mit einem weißen und schwarzen Schwan und Werten aus dem 19. Jahrhundert. Scheinbar mühelos bewegt sie sich in einer Grauzone zwischen Tag und Nacht, Ambition und Exzess, Kontrolle und Kontrollverlust.
Die Figur der Lily steht für den Rock'n'Roll in der erstickend hermetischen Ballerina-Welt, die uns "Black Swan" präsentiert. Sie ist der selbstbewusste Hoffnungsschimmer in diesem herrlich maßlosen, pathetischen, perversen und im besten Sinne dick aufgetragenen Gruseldelirium, diesem rauschhaften Meisterwerk des Körperkinos.
Jetzt schon ein Film des Jahres.
Centfox