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Martina Bauer

Geschriebenes und zu Beschreibendes. Literatur und andere Formate.

5. 1. 2011 - 15:12

Kälte im Innen und Außen

Annette Mingels "Tontauben" führt uns an die Kippe Spätherbst - Winter. Auf einer Nordseeinsel. Hier ist niemandem wirklich warm ums Herz.

Die Widmung ganz vorne macht klar, es gibt eine Art wahren Kern:
Auch wenn dieses Buch auf einem realen Ereignis beruht, sind Orte, Figuren und Geschehnisse doch fiktional.

Im Mittelpunkt von Tontauben steht der Tod eines Mädchens. Darum spinnen sich zwei Stories gespickt mit Gefühllosigkeiten verschiedenster Ausprägung. Beherrschend sind außerdem das wiederkehrende Vogelmotiv sowie die Nichtfunktionalität menschlicher Beziehungen. Zerbrechlich wie Tontauben eben. Zum Abschuss freigegeben.

Es ist der vierte Roman der 1971 in Köln geborenen Annette Mingels, die heute in den USA lebt. 2006 nahm sie übrigens am Wettlesen um den Bachmannpreis teil, und zwar mit ihrer Kurzgeschichte Nachbeben .

Cover von Tontauben: Landschaft mit Vögeln

Dumont Verlag / Doug Landreth/Corbis

Annette Mingels´ "Tontauben" ist bei Dumont erschienen.

Der erste Satz mit Schnee:
„Die Kälte ist noch einmal zurückgewichen. Ein spätherbstliches Hoch hat sich zwischen Regen und Schnee gedrängt wie ein resoluter Polizist, der den Verkehr umleitet.“
Dieser Satz fällt auf Seite 20, aber bereits die allererste Zeile des Buches macht klar: „Es wird kalt. Jeden Tag kommt der Winter ein Stück näher.“

Der Schnee fällt in:
Eigentlich auf. Nämlich einer nicht näher bezeichneten Nordseeinsel. Früher war diese nur durch eine zweimal am Tag verkehrende Fähre mit dem Festland verbunden. Heute ist die Insel ein Ferienort inklusive Autoreisezug und Flughafen.

Darum geht’s:
Zentrales Moment in Tontauben ist der Unfalltod der 13-jährigen Yola. Eines Nachts. Auf dem Heimweg von ihrer ersten, richtigen Party, auf der sie sich langweilte und überstürzt aufbrach.
Von hier aus hat die Autorin ihren Roman gewissermaßen in zwei Hälften gebrochen. Abschnitt I lautet DANACH und begleitet Anne und David, die Eltern des toten Mädchens. Seit einem Jahr leben sie in einer Art Watte-Glocke, einem „So-Tun-als-Wäre-die-Zeit-Stehengeblieben“. Bis Anne sich entscheidet, mit Hilfe eines Psychologen ihrem Leben - zumindest beruflich - eine neue Richtung zu geben und so auf einen Mann trifft, für den sie ein unbeschriebenes Blatt zu sein scheint. Teil II heißt folgerichtig DAVOR. Erzählt wird von den beiden Mittelalterforschern Esther und Frank, die sich auf der Tagung "Eros - Usus und Abweichung" kennenlernen und eine Affäre beginnen. Frank wird mit besserer Kenntnis immer weniger sympathisch; er fährt einen hochrädrigen Geländewagen.

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Schnee steht als Metapher für:
Distanziertheit, Gefühls- und innerliche Kälte. Eine permanente Kühle begleitet beim Lesen. Man möchte es der Mutter des toten Kindes gleichtun, die sich unter die Dusche stellt "bis ihre Haut ganz rot und heiß ist".

So liest sich das:
"Sie verstummt und Tristan sagt: Einen Kaffee. Ich hole uns einen Kaffee, einverstanden? Als er wieder ins Zimmer kommt, hat sie sich gefangen. Lobt den Kaffee, zeigt auf die Schlüssel an der Wand. Hast du die gesammelt? Nein, sagt Tristan. Die stammen von meinem Vater. Er selbst sei kein Sammler. Verlieren höchstens Sachen. Jeden Tag eine Kleinigkeit. Die Insel muss gesprenkelt sein von meinen Besitztümern. Er lacht. Anne fragt: Ist das gut oder schlecht? Gut, sagt er nach einer Weile, ich glaube, das ist gut."

Schneeart:
Der Schnee fällt erst, ist im Grunde also frisch. Gefühlig ist es aber ein harter, festgetretener Schnee. Wenn man ausrutscht und fällt, wird es wehtun.

Und das lernen wir daraus:
Wenn man in mehrere Schichten Klamotten gehüllt ist, wird es nicht zwingend wärmer, aber der Abstand zum nächsten größer. Und: Wenn etwas schmilzt kommt nicht immer Angenehmes zu Tage.

Ist wärmstens zu empfehlen für:
FreundInnen der reduzierten, klaren Sprache, die gerne auch zwischen den Zeilen lesen. NaturliebhaberInnen und alle, die sich im Norden Deutschlands wohlfühlen.