Erstellt am: 25. 12. 2010 - 10:57 Uhr
Aus den Untiefen des menschlichen Daseins
Das Doppelzimmer spezial mit Paulus Hochgatterer ist am 25.12.2010 von 13 bis 15 Uhr auf FM4 zu hören.
Der eine ist Kommissar, der andere Psychiater und beide sind sie Hauptfiguren in dem neuen Roman "Das Matratzenhaus" von Paulus Hochgatterer. Noch etwas haben die beiden fiktiven Männer gemeinsam: Sie mögen ihre Frau bzw. Freundin. Und sie zeigen und thematisieren das auch. Das eigenartige ist, dass mir so etwas überhaupt auffällt. Das muss wohl daran liegen, dass Männer in der Literatur das normalerweise nicht tun. Der Umgang mit Gefühlen obliegt den Frauen; das Klischee hat immer einen realen Boden. Die Geschichten von Paulus Hochgatterer haben auch einen realen Boden. Der enstammt dem Leben des Autors, das zweigleisig verläuft: Die eine Schiene führt durch ein Medizinstudium, das schließlich in einer Spezialisierung auf Kinder- und Jugendpsychiatrie endet. Die andere Schiene ist die der Literatur. Hochgatterer hat immer schon geschrieben, seit er eigene Gedanken formulieren kann. Tagebücher, Briefe, später Geschichten und Romane.
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Die Geschichten, die Paulus Hochgatterer schreibt, verschonen mich als Leserin keine Minute lang. Der Schmerz einer jungen Frau, die in der Psychiatrie liegt, weil sie sich nur durch selbst zugefügten Schmerz spürt, der Selbstmordversuch eines jungen Musikers, der grausame Missbrauch an kleinen Mädchen – all das mutet mir der Autor zu. Und ich folge seinen Figuren durch eine Welt, die neben der Hölle, die sich die Menschen gegenseitig bereiten, ihre einfühlsamen, unspektakulär schönen Seiten hat. In der Männer nicht nur Täter, sondern liebevolle Väter, verunsicherte Ehemänner, unkonventionelle Liebhaber sind. In der Frauen streng, eigenständig, wild und manchmal unerträglich ignorant und grausam sind. Die Bandbreite des Gefühlsbogens, der sich beim Lesen von Hochgatterers Geschichten beim mir auftut, ist groß. Die Nachhaltigkeit ebenso.
Im Gegensatz zu den Geschichten des Autors, die ich gerne lese, in denen ich mich jedoch nicht allzu lange aufhalten möchte, ist er selbst eine ungewöhnlich angenehme Erscheinung. Ich ertappe mich auf einer Suche nach tiefen Seen, in denen Hochgatterer die oft schrecklichen Geschichten, mit denen er in seinem Alltag als Kinderpsychiater zu tun hat, versenkt. "Ich biete in mir offenbar keine Projektionsflächen für all die Traumata, die mir meine jungen Patientinnen erzählen", kürzt der Autor meine Suche ab. Offenbar keine tiefe Wunden aus der Kindheit, alles in halbwegs verträglichen Bahnen abgelaufen. Beneidenswert. Mit ein Grund, warum Paulus Hochgatterer in die Tiefen anderer schauen kann, ohne selbst daran zu verzweifeln. Wir reden über die Überforderung vieler Eltern und die Auswirkungen dessen auf ihre Kinder. Hochgatterers Art, mit Respekt über Kinder und Jugendliche zu sprechen ohne sich anzubiedern, spricht dafür, dass er gut ist in seinem Beruf als Psychiater. Als Autor ist er es in jedem Fall .
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Vorschau: am 1.1.2011 ein Doppelzimmer mit Claudia Mühl, Ex-Kommunardin und Königin der Mühlkommune rund um den Aktionisten Otto Mühl. Nach 40 Jahren Kommunenleben stellt sie sich ihrer Geschichte und einem neuen Lebensabschnitt.
Literatur von Paulus Hochgatterer:
- Das Matratzenhaus, Paul Zsolnay Verlag, 2010
- Die Süße des Lebens, 2006
- Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen, 2003
- Caretta, Caretta, 1999
Die Playlist zur Sendung findet ihr im Tagesprogramm.