Erstellt am: 23. 12. 2010 - 13:12 Uhr
Sunset Park
Die Krise ist ein zentraler Punkt in Paul Austers Werken, geht es für den dunklen Fürsten der Postmoderne in der Literatur doch grundsätzlich darum, Menschen dabei zu beobachtet, wie sie sich verändern. Dieser Prozess wird in den Büchern des amerikanischen Schriftstellers durch Krisen ausgelöst, wobei Austers Charaktere meist auf familiärer Ebene oder in ihrer Liebesbeziehung vom Schicksal getroffen werden.
Für sein 16. Buch "Sunset Park" wählt der Meister des verschachtelten Erzählens das Amerika im auslaufenden Jahr 2008. Als die Immobilienblase endgültig geplatzt ist, und der durch das ökonomische Vakuum entstandene Sog eine Bank nach der anderen in die Untiefe reißt. Inmitten des wirtschaftlichen Wirbelsturms versucht ein junger New Yorker im sonnigen Florida seiner Vergangenheit zu entkommen.
Die Krise in der Krise
Miles Heller betätigt den Auslöser seiner Kamera. Er hat es zu seiner Passion gemacht, hinterlassene Dinge zu fotografieren. Er arbeitet bei einer Räumungsfirma im sunset state, und während seine Kollegen die durch Zwangsvollstreckung verlassenen Wohnungen durchstöbern, hat es Miles sich zur Aufgabe gemacht, die Spuren der Bewohner und Familien festzuhalten, die in verzweifelter Hektik ihr teures Hab und Gut zurücklassen mussten. Bis auf seine Kamera und eine kleine, schäbige Wohnung besitzt der Studienabbrecher nichts als seine Einstellung, ganz im Hier und Jetzt zu leben. Verbindungen zu seiner Familie und all seinen Freunden hat er vor knapp acht Jahren endgültig gekappt. Einzig und allein sein schrulliger Jugendfreund Bing Nathan erstattet hin und wieder Report aus dem Big Apple. Was Miles in Wirklichkeit am Leben hält ist seine Liebe zu der siebzehnjährigen Schülerin Pilar Sanchez. Verbotener Weise geht der Achtundzwanzigjährige eine sexuelle Beziehung mit der Minderjährigen ein, was Pilars älteste Schwester ausnützt, um ihn zu erpressen. Die einzige Möglichkeit dieser verzwickten Situation zu entkommen ist die Flucht.
Faber and Faber
Gleich eines Sträflings, der eine lange Haftstrafe antritt, reist Miles zurück nach New York, um bis zu Pilars Volljährigkeit dort unterzutauchen. Bing Nathan bietet ihm ein kleines Gratiszimmer in einem verfallenen Haus im Sunset Park in Brooklyn an, das er und zwei Freundinnen illegaler Weise besetzt haben. Trotz permanenter Angst vor polizeilicher Räumung ist es der billigste und perfekteste Zufluchtsort für Miles. Doch die Vergangenheit und das unaufhaltsame Schicksal dringen selbst in die hintesten Winkeln einer versteckten Kommune, und so muss sich der junge Flüchtling schlussendlich dem traumatischen Unglück seiner Vergangenheit stellen, in der sein Stiefbruder ums Leben kam.
Mit kühler Distanziertheit verwebt Paul Auster die Lebenslinien seiner Figuren vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, wobei die Familie Heller im Mittelpunkt der generationsübergreifenden Analyse steht. Wie in vielen Austerschen Erzählungen ist auch hier Miles Beziehung zu seinem Vater, dem Verleger und Verlagsleiter Morris Heller, der Dreh- und Angelpunkt des Buchs. Ähnlich wie in "Mann im Dunkel" ist bei "Sunset Park" die Familie ein Schlachtfeld, auf dem emotionale Kämpfe ausgetragen werden. Und genau in diesen Momenten besticht die handwerklich präzise Arbeit von Paul Auster. Die Zerrissenheit der Charaktere und die paradoxen Situationen, in die sie gezwungen werden, macht die Geschichte berührend und haucht ihr Leben ein.
Von alten Männern und jungen Frauen
Erst kürzlich meinte Paul Auster in einem Interview zu seinem letzten Roman "Unsichtbar" gemeint, dass sein old men cycle vorbei sei. Verständlich also, dass die Hauptfigur von "Sunset Park" ein Mittzwanziger ist, der mit drei altersgleichen Freundinnen und Freunden unterhalb der behördlichen Wahrnehmungsgrenze versucht, zu überleben. Doch gerade die Erzählperspektive von Miles Hellers Vater ist jene, die den alten und düsteren Austerschen Zauber versprüht. Wenn der Fokus auf eine der Bewohner der illegalen Kommune verlegt wird, entsteht der Eindruck der künstlichen Reissbrettarbeit, denn Paul Auster hat sich in seinen mehrschichtigen Erzählebenen viel vorgenommen. Zum Beispiel den Versuch, die Nachkriegsgeschichte Amerikas mit der derzeitigen Wirtschaftskrise zu spiegeln, indem er eine seiner beliebten Filmanalysen hervorholt (in diesem Fall seziert er die Szene von "The Best Years Of Our Lives"). So werden seine jungen Charaktere zu Veteranen eines durch den Kapitalismus entbrannten Sinnkrieges, in dem jede und jeder nur mit tiefen Wunden davon kommt.
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Damit einher geht die Tatsache, dass alle Figuren in "Sunset Park" mehr oder weniger unterdrückte künstlerische Ambitionen hegen. Selbst die alternde Generation wie der Schriftsteller Renzo Miachelson und Verleger Morris Heller (klarer Weise Alter Egos durch die Paul Auster seinen zynischen Blick auf die Literaturindustrie werfen kann) die es geschafft haben, ihre Passion zum Beruf zu machen, strauchelt in den wirtschaftlich unsicheren Zeiten. Und die Jugend ist mit ihrer Kunst ohnehin oft am der Kippe zum psychischen Zusammenbruch. Vor allem die junge Mitbewohnerin im Sunset Park, Ellen Brice, die erst durch die Malerei zu ihrem eigenen Körper findet, ist Austers Paradebeispiel für eine der Künstlerinnen im Sinne der damaged souls, the walking wounded, opening their veins and bleed in public.
In "Sunset Park" lässt Paul Auster mehr denn je durchblitzen, dass seine klug verstrickten Geschichten einem konstruierten Plan folgen. Während andere Erzählungen einem kunstvollen Labyrinth oder überraschend vielen Schachteln in Schachteln gleichen, führt uns Auster diesmal recht geradlinig und trocken gleich zur Krise selbst, die den Rahmen für weitere Krisen bietet. Deshalb funktioniert "Sunset Park" eigentlich nur dann, wenn Auster sich genug Zeit lässt, das Psychogramm seiner Hauptfigur in all seiner tiefgehenden Komplexität zu entwickeln. Was die in dieser Leidensgeschichte vernetzten Charaktere angeht, sind sie oft leider nur Mittel zum Zweck einer Metaebene über ein Amerika, dass neben dem ökonomischen Tief noch immer an dem 9/11 Trauma leidet. Erst im letzten Drittel entfacht der Roman den unheimlichen Sog, den dieser amerikanische Schriftsteller über die letzten Jahrzehnte bis zur Perfektion entwickelt hat. Und dieses furiose Finale wiegt in jedem Fall die zeitweiligen Unzulänglichkeiten des Buches vollkommen auf.