Erstellt am: 1. 12. 2010 - 19:04 Uhr
Dann doch lieber sanfte Revolution
Fast gar nicht am uninteressantesten anzusehen sind die zwei Tänzer, die da links und rechts an den Bühnenrändern platziert sind. Mit ihren Früh-Neunziger-Jahre-haft geschnittenen Hemden, die prinzipiell schwarz, and der Vorderseite aber weiß sind, scheinen sie wie aus einem Musikvideo von Bobby Brown oder Color Me Badd zu Hochzeiten des New Jack Swing in die Gegenwart hinübergerettet. Ein Outfit, das sie mit Moves im Spannungsfeld zwischen Vogueing und HipHop-Formationstanz zu einem in seiner absichtlichen Posenhaftigkeit milde lächerlichen, und so also wunderbaren Schauwert verbinden. Zwischen den beiden, im Zentrum des Geschehens, steht M.I.A. Sie trägt eine Kefiya auf dem Kopf, obwohl im Gasometer gar nicht die Sonne scheint, macht agil die Choreographien mit und gibt Soloeinlagen mit ihren getrademarkten schlenkernden Gummibeinen. Es ist eine Popshow, was auch sonst, die da am Dienstag Abend im Wiener Gasomter gelandet ist. Mit leuchtenden Röhren und blinkendem Screen.

Florian Wieser
Die Fuck-You-Attitude und die Notwendigkeit, ihren Ruf zu rehabilitieren, tendeziell eine Schwierige zu sein, hat M.I.A. vermutlich im letzten Interview gelassen, heute hier auf der Bühne wird - sauber geölt - die Pop-Maschinerie bedient. Zuvor hat das wunderbare New Yorker Noise-Pop-Duo Sleigh Bells mit seiner Zusammenkunft von Thrash-Metal-Riffing, Beats und Gwen-Stefani-Melodei die ganz billige Pracht enfaltet. So herrlich und nachhaltig wie das erste Album der Beastie Boys. Wer hat "Revolution" gesagt?
2010 ist für die englische Musikerin M.I.A. kein leichtes Jahr gewesen. M.I.A., einer 4, 5, 6 der prägendsten - wenn auch unwahrscheinlichsten - Stars, ja: Stars, der letzten zehn Jahre: Die weltmusikalische Pop-Verwurstung von quer aus allen Ecken der Erde zusammengepflückten Styles hat sie maßgeblich salonfähig gemacht. Sie mag selbst möglicherweise nicht die mit den allerhöchsten Studiotricks beschlagene Musikerin sein, wie Ex-Lover und Produzent Diplo kleinkindisch eingeschnappt gerne in Interviews behauptet, jedoch ist sie klarerweise eine Meisterin des Erkennens und Mitnehmens, des Delegierens und Orchestrierens von Projekten, im Stehlen, Umwidmen und Neuzusammenschneiden. Auch ihre in vierzig Farben und Formen optisch vibrierenden Leggins haben die Modewelt weit nach vorne gebracht. Und dann erscheint dieses Jahr ein Zeitungsartikel, der M.I.A. als Poserin entlarven will, als Fake, als gleißende Hohepriesterin des Radical Chic.

Florian Wieser
Die Affäre Truffelgate war der doofste und unterhaltsamste Pop-Diskurs des Jahres, sehr lehrreich auch, weil durch sie schließlich wieder einmal die Aufgaben und Pflichten von "seriösem" Journalismus aufs Diskussionsschlachtfeld gezerrt wurden. Die Autorin Lynn Hirschberg hatte im New York Times Magazine ein recht unschmeichelhaftes M.I.A.-Porträt veröffentlicht, das die Künstlerin als philantropische Hochstaplerin erkannt haben will: Megamainstream-Popstar sein und gleichzeitig Kämpferin der Entrechteten, wie soll das zusammengehen? Einen Milliardär heiraten, im Interview Trüffel-Pommes essen und auf die politsche Situation in Sri Lanka hinweisen? Die Pommes waren von Hirschberg selbst bezahlt, einige Interviewpassagen etwas zu frei editiert worden. Es folgten Zankereien, M.I.A. hatte das Interview unbemerkt mitgeschnitten, und das - freilich nicht aufgrund des Eklats, aber in dessen Fahrwasser termingerecht wie die Faust passende - No-Bullshit-Anti-Alles-Album "Maya": Noise, Maschinenlärm und Rants gegen Google, Internet und überhaupt.
Auch wenn sich die Setlist des Abends freilich schon auch aus "Maya" speist, bleibt die Motorsäge heute weitestgehend im Sack. Nach einem krisengebeutelten Jahr voller Diss und Gram und einem von der Kritik nicht unbedingt gefeierten Album gibt M.I.A. die bodennahe Entertainer, die sie ist. Wenn heute der Mittelfinger gereckt wird, was will er uns bedeuten? Auf der Bühne stehen @-Leuchtschilder.
War es jemals möglich, M.I.A. als etwas anderes denn als Salon-Revolutionärin mit biografischer Legimitation und ehrbaren Motiven zu sehen? Dass sie schon auch bloß mit Symbolen jongliert, bisweilen Inhalte leicht naiv, verkürzt und nicht komplett abgefedert transportiert und sich dann natürlich auch im Lichte des von ihr erdachten Gimmicks sonnen will, ist noch nie irgendwo ein Geheimnis gewesen. Wenn man denn will, kann man im Internet Videos finden, in denen M.I.A. Dinge sagt wie: "Ja, ich bin Künstlerin und will meine Position nutzen, um auf Dinge aufmerksam zu machen. Dabei habe ich mich manchmal weit aus dem Fenster gelehnt und die Konsequenzen getragen. Jetzt aber sollen sich Menschen, die eine Ahnung von Politik haben, die studiert haben, um die Angelegenheiten kümmern."

Florian Wieser
Es ist ein Konzert voller guter Laune, ohne Schnupfen. M.I.A. spricht, geht ins Publikum und meint - vergleichsweise früh im Set - bei der Nummer "Boyz": "We want some people on stage!" Es geschieht, Euphorie und tanzende Menschen beleben die Bühne und den Saal. Die Höhepunkte kommen von "Kala" und "Arular", zwei Alben - man soll es nicht vergessen - die der Welt die spannendste Musik der jüngeren Vergangenheit geschenkt haben und tatsächlich ein Umdenken innerhalb der Beziehung zwischen den beiden Begriffen "Pop" und "Welt" mitbefördert haben. "Galang", "Bucky Done Gun", "Bamboo Banga" oder das fanfaren-betriebene "XR2". Große Tanzmusik, an MusikerInnen gibt es außer M.I.A. selbst, bloß eine fallweise Schlagzeugerin und eine Art DJ/Konserven-Abspielerin zu erleben. Autenthizität vortäuschen braucht hier keiner. Dem ohnehin formidablen Gemütszustand der Veranstaltung hätte es vielleicht nicht geschadet, wenn das vielstimmig bimmelnde Klangdesign von M.I.A.s Platten, die Handclaps, die Pfeifen, die vertrackten Rhythmen, die viertausend Soundideen aus dem akustischen Matsch des Gasometers etwas markanter hervorgedrungen wären.
Zum Schluss gibts noch die Suicide-Weiterverwertung "Born Free" und - Ka-Ching! - "Paper Planes" - man wird noch Jahre darauf warten müssen, bis diese Jahrhundertnummer darin versagen wird, Massen von sich wildfremden Menschen in sich geheimbündlerisch zuzwinkernde Schwestern und Brüder zu verwandeln und sie den Glanz des Lebens feiern zu lassen: "Got more records than the KGB...lalala. Some, some, some I murder, some, some, some I let go." Explosionen erhellen im Takt den Screen. Ein wunderbarer Abend, ohne Sinn und Notwendigkeit recken wir unsere Fäuste in den Himmel, schwitzen, fühlen uns befreit und fahren in die Disco. Die Welt ist voller Zeichen, für viele sind wir blind. Ebenso M.I.A., ein paar hat sie sich genau angeschaut, ein paar absichtlich nachlässig.