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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

29. 11. 2010 - 15:50

Komplizierte Welt

Darf radikaler Noise mit zuckersüßem Pop kuscheln? Ja, sagen die Sleigh Bells, die jetzt mit ihrer seelenverwandten Labelchefin M.I.A. nach Wien kommen.

Also, das wird wohl nichts mehr mit den eindeutigen Positionen und festgefahrenen Meinungen dieser Tage.

Natürlich könnte man an dieser Stelle noch mit einem überwiegend positiven Konzertreview des letzten Lady Gaga-Auftritts kopfschüttelnde Reaktionen aus manchen herauskitzeln. Und sicher werden einige "Ausverkauf" murmeln, weil die Kings of Leon die Wiener Stadthalle schneller ausverkauft haben als besagte Chartsdiva.

Aber im Grunde sind einst unüberbrückbare Grenzen für immer gefallen, festbetonierte Mauern in Sachen Distinktion eingestürzt.

Dass sich Kelis von David Guetta und Boys Noize produzieren lässt, Christina Aguilera tatsächlich Le Tigre und Peaches an Bord geholt hat oder Kanye West auf seinem neuen Album mit Fergie ebenso zusammensingt wie mit La Roux oder Bon Iver, es interessiert schon kaum jemanden mehr.

Wenn in Zukunft Arcade Fire mal kurz Elton John auf die Bühne holen, sich die Crystal Castles mit den Black Eyed Peas auf ein Packl hauen oder Sunn O))) mit einem Ravemix die Hitparaden aufrollen, wird vielleicht sogar meine Wenigkeit kurz zusammenzucken. Aber solche und ähnliche Entwicklungen lassen sich nicht aufhalten.

Sleigh Bells

Sleigh Bells

Es braucht neue Blickwinkel und Ansätze zum alten Indie-versus-Mainstream-Kuddelmuddel. Denn so wie alles im Moment ungemein kompliziert und nicht mehr nach eingespielten Kriterien beurteilbar ist, von der Politik über die Wirtschaft bis zur Sexualität, entzieht sich auch Pop im Augenblick den etablierten Gesetzen.

Fragt die beiden britischen Buben von Hurts, die, aus einer kleinen Electro-Nische kommend, bereits Robbie Williams bombastisch überholen. Schaut euch die Blitzkarriere des US-Trios Salem an, das es mit stockdüsterem und drogenverseuchtem Zeitlupen-Krach in sämtliche Lifestyle-Magazine geschafft hat, schneller als manche Redakteure "Witchhouse" buchstabieren können.

Oder schaut euch das famose junge Duo Sleigh Bells aus der ewigen New Yorker Wunderwuzzi-Zentrale Brooklyn an. Sängerin Alexis Krauss und Gitarrist/Produzent Derek E. Miller symbolisieren geradezu prototypisch die neue diffizile Welt, in der einstige Verbindlichkeiten nicht mehr gelten.

Letzten Mittwoch (24.11.) gab es übrigens das komplette Sleigh-Bells-Album "Treats" im FM4-House of Pain zu hören.

Begegnet sind sich die beiden angeblich in einem Restaurant, in dem der ehemalige Hardcore-Musiker Derek kellnerte, und Alexis, die gerade aus der Teenpopcombo Rubyblue ausgestiegen war, mit ihrer Mutter speiste. Ein kleines Tischgespräch später, bei dem die Frau Mama die Tochter in höchsten Tönen lobte, freute man sich schon auf einen gemeinsamen Probetermin. Und dort klickte es musikalisch.

Sleigh Bells

Sleigh Bells

Nun hätte sie auch durchaus katastrophale Folgen haben könne, die ungenierte Annäherung der Nachwuchs-Britney-Spears an den Ex-Gitarristen der Punkrocker Poison the Well. Und umgekehrt. Ich stell mir jetzt kurz so einen Green-Day-Musical-Wahnsinn mit samtener Frauenstimme vor.

Aber die Sleigh Bells gehen einen ganz anderen Weg. Hörbar beeinflusst vom Digital Hardcore rund um Alec Empires gleichnamiges Ex-Label, lassen sie simple und brachiale Grooves, meist vom Hip Hop geklaut, auf klirrende Gitarren prallen. Sie überziehen das alles noch mit einer knusprigen Noiseschicht, setzen die Teenpop-Vocals von Alexis Krauss obendrauf. Und jagen alles durch den Kompressor.

In den besten Momenten, und davon gibt es auf dem Sleigh Bells-Debütalbum "Treats" viele, klingt das wie eine satanische Cheerleader-Revolution, wie eine Disneyclub-Cartoonversion von "Hostel 1 & 2" oder schlicht wie kondensierte, rotzige Rock'n'Roll-Geschichte, von den 50ies bis zumindest 2015. Billig, poppig, brutal, picksüß. Wem einfach das gemeine Wort "geil" einfällt, liegt nicht falsch.

Der Sprung von Krauss und Miller zum aktuellen Sound ihrer Labelchefin Mathangi „Maya“ Arulpragasam ist nicht sehr groß. Denn bekanntlich hat M.I.A. ihre im allerweitesten Sinn knallbunten Worldmusic-Mutationen gegen einen verzerrten Agit-Lärm eingetauscht, in dem inmitten radikaler Parolen auch den Gaumen prächtig verklebende R'n'B-Zuckerl Platz haben.

M.I.A

XL Recordings

Dass M.I.A. ihre kulturpessimistischen und destruktiven Botschaften als euphorisch und lebensbejahend begreift, dass da eine Frau ins Mikrofon brüllt, die Mutterschaft, politisches Engagement, Mode und einen Flirt mit dem schwerreichen Establishment locker und tanzbar verbindet, all das passt zur Lage 2010.

M.I.A. und Sleigh Bells am 30.11. im Wiener Gasometer

Morgen Dienstag wird Maya Arulpragasam jedenfalls zusammen mit den Sleigh Bells als Supportact die Boxen im Wiener Gasometer strapazieren. Ach ja, ob dabei auch eine "richtige" Band auf der Bühne steht, oder wie Krauss und Miller stolz verkünden, ein Playback aus dem iPod knallt, diese Diskussion ist so oldschool wie die alten Klüfte Mainstream und Underground.

Es braucht neue Blickwinkel und Ansätze in dieser komplizierten Welt. Bis dahin dürfen wir aber auch einfach nur mal einen Abend Spaß haben.