Erstellt am: 3. 11. 2010 - 16:28 Uhr
Was, bitte, ist die Mitte?
Der nebenstehende Text ist die Ausgangs-Basis für die Bonustrack-Sendung am 3.November, die FM4-Mitternachtseinlage am Mittwoch.
Thema diesmal: die undefinierte Mitte, nach der sich die politischen und sozialen Entscheidungen der Demokratie richten - gibt's die überhaupt? Und wenn ja, wie sieht sie aktuell aus. Und: was das alles mit den guten alten Klassen zu tun hat.
Eine Kurzversion für Dummies gab's auch - aber nur live im Bonustrack, ätsch!
Hörer/Leser/User Michael Mayer hat ein paar Texte aus der herbstlichen Bonustrack-Reihe zum Anlass genommen in seinem Blog einer der Begriffe, der dort, aber natürlich auch sonst in politischen Diskussionen immer wieder vorkommt, ohne sich einer Hinterfragung zu stellen, zu analysieren: den der politischen Mitte.
Die ist ja Scheinmandat-Geber nahezu jeder politischen Kraft, für die werden Gesetze und Bestimmmungen offiziell maßgeschneidert, die dient als schulterzuckende Ausrede für Aktionen, mit denen lobbylose Randgruppen abgewatscht werden.
Weil "die Mitte" ein diffuses Etwas ist, fällt es nicht schwer sie (oder besser: ihr Image, ein virtuelles, künstlich erzeugtes Bild von ihr) in Geiselhaft zu nehmen und für demokratiepoolitisch bedenkliche Zwecke zu instrumentalisieren.
Das funktioniert heute besser denn je, weil die Mitte, die Mittelschicht, nach Jahrezehnten der Unbeweglichkeit in eine akute Gefahrenlage geraten ist. Große Teil der Mitte sind (oft real, oft auch nur gefühlt) von einem Absacken in die Unterschicht bedroht. Sozialabbau, geringer werdende Solidarität, eine zunehmende Zwei-Klassen-Gesellschaft in Bereichen wie Schule oder Medizin und eine seltsame Eigen-Definition über Konsumgewohnheiten tragen dazu bei, dass die Angst in die Unterschicht durchgereicht und sozial abgekoppelt zu werden, so stark ist wie seit gut 60 Jahren nicht mehr.
In der Cluster-Darstellung der heimischen Sozial-Milieus...
erzdiozöse oö
... wird die Mitte "bürgerlich" genannt. Das meint nicht den städtischen Citoyen (der ist defacto-ausgestorben wíe das Przewalski-Pferd) und auch kein intellektuelles Großbürgertum, sondern die Normal-Bürger des kleinstädtsich strukturierten Österreich.
Die AK, schreibt Mayer, definiert die Mittelschicht bei einem Schnitt von 2000 Euro Brutto-Einkommen, und rechnet mit etwa einer Million Arbeitnehmern und etwa 80.000 Selbstständigen. Das umfasst zufriedene Aufsteiger ebenso wie vom Abrutschen Bedrohte, bietet also kein einheitliches Bild, wie das vom kleinen Gewerbetreibenden, das von VP, Wirtschaftskammern kommt oder das vom eifrigen Arbeitnehmer, das SP und Gewerkschaften malen, oder das von einer von Ausländern und elitären Gesellschaftsutopistischen bedrohten Einheitsfront von braven Bürgern, die die FP vertreten will.
All das ist sie also, die "Mitte".
Die Angst vorm anschlussverpassenden Absturz
Nachdem jahrzehntelang das Bewusstsein genügt hatte, dass man durch eine schlecht ausgebildete Unterschicht nicht überholt werden kann und die geringe Eventualität durch "harte Arbeit" oder mittels Popstartum oder Wirtschaftsverbrechen in die Oberschicht aufsteigen kann, regiert jetzt die Angst den Anschluss nicht zu verpassen und in die neue Gruppe der Working Poor abzustürzen.
Dass diese Neu-Klassifizierung in der Wiedereinführung einer Klassen- und Stände-Gesellschaft auf 2.0-Niveau münden kann, sollte nicht verwundern - schließlich ist das System dahinter immer dasselbe.
Der seit den 70ern breiter verteilte "kleine Wohlstand" ist also gefährdet. Und die bislang träge und politisch verlässliche Mitte beginnt sich plötzlich mit den Ideologien der autoritätsgläubigen Wenig-Qualifizierten zu beschäftigen, und tragen somit dazu bei, dass demokratie- und sozialpolitische Aushöhlungsarbeiten vorangetrieben werden, während die tatsächlich Abgehängten bereits in apathischer Schwach-Konsum-Dröhung leben und dem politischen System ade gesagt haben (was nicht weniger gefährlich ist, vor allem, weil hier eine Rekrutierung stattfinden kann, wie sie aktuell in Ungarn bereits passiert ist).
Nun ist die "bürgerliche Mitte" die deutlich größte Gruppe der vielen durchaus disperat zerspragelten Sinus-Milieus des Landes, die (siehe obenstehende Graphik) zwischen 5 und 13% dahindümpeln und ihren Konsens tatsächlich eher in Hansi Hinterseer (der von der Koalition Ländliche/Traditionelle/Mitte/Konservative/Konsumisten getragen wird - wie einiges anderes mehr) findet als in den X-Games von Red Bull (um eine andere Grausamkeit zu zitieren), die sich auf den Zusammenschluss Reformer/Postmatierielle/Experimentalisten und Hedonisten stützen kann.
Alles ist sehr kompliziert...
Wenn es um auch nur wenig darüber hinausgehende Maßnahmen und die entsprechenden Verständnishorizonte geht, ist's mit der Zustimmung durch simples "I like!" vorbei.
Dieser Artikel ist die Ausgangs-Basis der Bonustrack-Sendung vom 3. November.
Phone-In Möglichkeit unter 0800- 226 996; von außerhalb Österreichs unter 43-1-503 63 18.
Lines open ab Mitternacht, wie immer erst nach der Kurzversion für Dummies.
Und in diesem Zusammenhang zitiert Michael Mayer einen Unterschätzten und damals genau deswegen Verlachten, der rückblickend gesehen eine wirklich visionär-philosophische Vorleistung auf einen Prozess, den er 1983 noch gar nicht erkennen konnte, gegeben hat. Der vor zwei Jahren verstorbene Altkanzler Fred Sinowatz. Dem wurde sein Spruch "Es ist alles sehr kompliziert" um die Ohren gehaut. in der Langversion (aus der Regierunsgerklärung von 83) klingt das aber so: "Ich weiß schon, meine Damen und Herren, alles ist sehr kompliziert, so wie die Welt, in der wir leben und handeln. Haben wir daher den Mut, mehr als bisher auf diese Kompliziertheit hinzuweisen; zuzugeben, dass es perfekte Lösungen für alles und für jeden in einer pluralistischen Demokratie gar nicht geben kann."
Musik zum Thema: Stuck in the Middle with you von Stealers Wheel. Schön ist auch Star von derselben Combo.
Und das, meine Damen und Herren, ist ein Satz und eine Maxime, die ich heute ganz dringend hören möchte.
Denn ohne dieses simple Eingeständnis wird das, was Sinowatz da anspricht, die pluralistische Demokratie nämlich, elend zugrundegehen.