Erstellt am: 31. 10. 2010 - 14:30 Uhr
Vlog #10: Kleine Revolutionen
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Die Viennale kann nicht das ganze Kino abbilden. Das muss sie auch gar nicht. Es geht darum, Signale zu geben, auf Tendenzen hinzuweisen, all das Reichhaltige und Vielgestaltige mitzunehmen und gerade an und in den Widersprüchen zu wachsen. Denn Kino, das darf nie verständlich sein. Man darf nie das Gefühl haben, das man alles kennt. Das Geheimnis ist essentiell für dieses Medium. Das Irrationale, Geisterhafte, Unbegreifbare. So nähert man sich einer gedanklichen und gefühlten Freiheit an.
Viennale
Ich bin verzaubert. Gestern. Zum einen: Premiere für ein Kurzfilmprogramm des Festivals im Gartenbaukino. Der Saal füllt sich gut für einen strahlendsonnigen Samstagnachmittag. Es sind mehrere hundert Leute gekommen, um sich Avantgardefilme anzusehen. Ist das zu glauben? Es funktioniert also: über die Viennale, dieses Festival mit enormer Außenwirkung, über die Neugierde, über eine zentrale Programmierung, dass man ein Publikum in ein anspruchsvolles Experimentalfilm-Panorama lockt. Das ist großartig, denn ein Festival ist nur so viel Wert, wie es den realen und den sozialen Raum mit in die Gleichung hinein nimmt. So eine breit kommunizierte Plattform, die verschiedenste Menschen aus den verschiedensten Gründen wahrnehmen und besuchen, die hat dann eben auch die Möglichkeit, herauszufordern, zu irritieren, zu verlangen.
Vollkommen zu Recht. Diese Pantoffel-Cinephilie, wo sich lethargische Menschen auf der Wohnzimmer-Couch noch einen und noch einen Film über die Heimkino-Anlage reinziehen, die kenne ich zwar auch, der steuere ich aber immer wieder gegen. Film, Kino muss auch immer mit Anstrengung und Mühe verbunden sein, will es etwas bewegen. Sei es, dass man sich aufmachen muss, durch die kalte Stadt. Sei es, dass man sich von einem Film heraus fordern lässt, dass man sich durcharbeiten muss, dass er einen Gedanken immer und immer wieder gegenliest. Eben dann, wenn sich ein Festival wie die Viennale bewusst als sozialer Raum definiert, den Besuchern etwas Neues bieten will, abseits von den neuen Filmen, dann ist das ungemein aufregend. Man hat es Direktor Hans Hurch gestern vor dem Kurzfilmprogramm noch angesehen, dass er sich nicht sicher war, wie dieses Experiment Kurzfilm im Gartenbaukino funktionieren würde; auch die Freude dann, als er die Hundertschaft an Gästen gesehen hat. Im Keim dieses Festivals ruht zum Glück kein volksbildnerischer Kern (das ist dem Chef zuwider), aber da keimen immer wieder die kleinen Revolutionen, da sprießen die Widerhaken. Und das ist gut so. Denn dann lebt da was. Das Kino selbst, vermutlich.
Festival im Trauerflor
New Wave Films
Ich erinnere mich noch sehr gut an die Viennale 2006. Eh ein Festival wie die Jahre zuvor, irgendwie aber auch vom Trauerflor umspielt: wenige Tage vor der Eröffnung ist Daniéle Huillet gestorben, ein Teil des legendären französischen Regie-Doppels Straub-Huillet. Die Viennale und ihre Macher haben eine langjährige Freundin und Ideengeberin verloren. Denn, man kann sagen was man will, und das werde ich diesem Festival immer wieder zu Gute halten: die Viennale ist eine sehr persönliche Angelegenheit von Hans Hurch und seinem Kernteam, mit allen Stärken und Schwächen, die das mit sich bringt. Angesichts der Formlosigkeit vieler vergleichbarer Festivals, die scheinbar nur mehr einen Programmzusammenstellungsautomaten anwerfen und die publikumstauglichsten Filme zeigen, ist mir das Kratzbürstige und leicht Unbequeme (von mir aus dürft’s gern noch mehr sein) tausend Mal lieber.
Die Viennale steigt etwa auch im Direktvergleich mit dem bereits seit Jahrzehnten etablierten Filmfestival von Rotterdam mittlerweile besser aus. Denn während die Holländer nach mehreren Direktorenwechseln wie ein führerloses Schiff durch den Weltkinonebel tingeln und irgendwie alles und nichts mitnehmen, hat die Viennale immer noch einen Angriff, schlummert trotz des breiten Programms eine Idee, eine Vision, eine Leidenschaft hinter all dem. Das findet man heute nicht mehr so oft. Schon wieder ein Exkurs, ich bitte um Verzeihung: jedenfalls die Sache mit Daniéle Huillets Tod. Genau. 2006 sitze ich dann also an einem Sonntagnachmittag im Gartenbaukino: der Überraschungsfilm steht an, der Saal ist voll. Der Vorhang öffnet sich, ich kann nicht glauben, was danach passiert. Sicilia!, von Straub-Huillet wird gezeigt. Die Viennale erweist der einflussreichen Filmemacherin und Freundin die letzte Ehre. Natürlich im Kino. Ich bin bewegt damals, dass sich die Veranstalter, die Macher da in die Karten schauen lassen, dass sie sich so öffnen, dem Publikum hin.
Viennale
Es kommt ja dann schnell mal der Vorwurf, das seien alles persönliche Projekte von Hans Hurch selbst, "der zieht einfach sein Ding durch". Ich bin mir sicher, auch ich habe mich mal darüber mokiert. Ja, die Obsession der Viennale mit den popkulturellen Niederschlägen und Auswüchsen der Gegenkulturen, die empfand ich als ungesund. Aber: es war in Ordnung, denn es ist ein Vorschlag. Die Viennale bleibt persönlich, das macht sie angreifbar, unperfekt, aber eben auch wertvoll.
Kino der Attraktionen
Gestern also, das Kurzfilmprogramm. Zuerst Ken Jacobs mit seinen Räumlichkeits-Ideen. Standbilder aus Italien werden zu Dioramen. Die Vergangenheit und die Zukunft des Kinos umarmen sich. Dann Guy Maddin, der kanadische Nostalgieprofessor, mit einer ziemlich redundanten, überfrachteten Arbeit. Irgendwann dann Tscherkassky: ich weiß sofort, ich bin in meisterlichen Händen. In Venedig wird Coming Attractions mit einem Preis geehrt, vollkommen zu Recht. Elf überschriebene Kapitel, angekündigt jeweils mit einem schwarzen, schön ornamentierten Insert, liefert der Film: eine Zuckerlbox, die sich, angelehnt an Tom Gunnings großartigen Text "Cinema of Attractions", anschickt, das frühe Kino mit dem Avantgardefilm zu verkuppeln, und das auch schafft.
Viennale
Die einzelnen Teilstücke sind, wie Stopps auf einer Zugfahrt, unabhängig voneinander gedacht, gehen aber dann schon auch immer wieder amouröse Beziehungen miteinander ein. Anfänglich dominieren Blick-Regime, zueinander und zur Kamera selbst: eine sehr direkte und reine Kommunikation, die Tscherkassky laut eigenen Aussagen dann auch im Werbefilm ausmacht - und unter anderem Waschmittel- und Strumpfhosenwerbungen (Tscherkassky ist "Found Footage"-Filmer) bearbeitet und verfremdet. Das Material Film selbst wird da zum Ideengeber und Umsetzer: einmal meint man Frauenhaare wehen zu sehen, eigentlich aber sind es Verschmutzungen und Manipulationen am Material selbst und ein Wehen auf der Tonspur, die diese Fantasie geschehen lassen. Ein andermal wird eine Hausfrau aus einem Werbefilm von einem Gitternetz auf dem Material wörtlich und förmlich eingesperrt. Schließlich reist man mit Tscherkasskys Film wirklich zurück in die Vergangenheit: damalige Vorstellungen haben immerzu mehrere mehrminütige Filme umfasst, eine Achterbahnfahrt durchs Kino der Attraktionen, eine Schule des Fühlens.
Viennale-Empfehlungen für Allerheiligen
1.11. 13:00 Uhr Gartenbaukino
2.11. 18:30 Uhr Urania
Edel-Dokumentarfilmemacher Frederick Wiseman porträtiert einen Box-Club: fliegende Fäuste treffen auf aufreibende Momentaufnahmen. Aggressionen und Zärtlichkeiten, Schweiß und Gelächter: ein kleiner Ort, an dem wie so oft in Wisemans Kino, sich alle Krankheiten und Schönheiten der Welt da draußen wieder zu finden scheinen. Außerdem ein Film über Körper und die Seelen, die sich darin verstecken.
Viennale
1.11. 20:30 Uhr Stadtkino
Die Viennale ist eines der wenigen internationalen Filmfestivals, das um den Wert des amerikanischen Dokumentaristen John Gianvito weiß. Vor zwei Jahren ist ihm ein Tribute gewidmet, jetzt legt er eine neue, eine mehr als vierstündige Arbeit vor. Einmal mehr geht es ihm um Neo-Kolonialismus, Imperialismus und die Hervorstreichung all jener Geschichten und Menschen, die in offiziellen Historien keinen Platz haben. Hier porträtiert er, geduldig und weise, mit minimalen Mitteln die ökologische und seelische Katastrophe, die nach der Aufgabe des US-Stützpunkts "Clark Airbase" über die philippinische Insel Luzon herein gebrochen ist. Episch, aufklärerisch, revolutionär.
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