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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

30. 10. 2010 - 12:38

Vlog #9: Where The Wild Things Were

Die Viennale erfreut sich regen Publikumsinteresses, aber reihum sterben die Kleinverleiher und damit auch die Kinokultur. Ein Plädoyer, ein Weckruf. Für alle wilden Tieren da draußen.

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Vielleicht habe ich mich geirrt. Vermutlich sogar. Die Viennale ist ein Wildlife-Reservat, angefüllt mit wilden Tieren, die es in der freien Marktwirtschaft eigentlich gar nicht mehr geben dürfte, da sie nicht gewinnbringend sind und damit ihre Existenzgrundlage, jedenfalls nach kapitalistischer Logik, verloren haben. Angebot und Nachfrage, eiserne Dialektik für eine eiserne Welt: Filmfestivals sind wie ein Zoo, wo bestimmte Kreaturen des Kinos gepflegt werden, die ansonsten keine Chance mehr hätten. Filme, die Genredefinitionen hinter sich lassen, die keine austarierte Zielgruppe haben, freie Filme. Aber was passiert dann, was geschieht nach der Viennale, wenn sich die Diversität in den österreichischen Kinos wieder auf das Alltagslevel zurück schraubt? Die Exoten sind dahin, touren einmal pro Jahr wie der chinesische Nationalzirkus um die Welt, lassen sich angaffen und wahrnehmen; dann aber, wenn niemand mehr hinsieht, fängt ihr Leiden an.

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Fantasia

Einen verzweifelten Brief habe ich letzthin gelesen, ein Freund hat mich darauf aufmerksam gemacht. Stéphanie Trépanier hat vor einigen Jahren einen Filmverleih gegründet, nachdem sie davor jahrelang für das verdienstvolle Fantasia in Montréal, eines der größten und wichtigsten Fantasy-Filmfestivals der Welt, gearbeitet und dort folgende Beobachtung gemacht hat: von den vielen tollen Filmen, die sie zeigen, schaffen es kaum welche regulär in die Kinos. Gleichzeitig aber wird sie immer wieder von Cineast_innen angeraunzt, wieso denn all diese großen Filme nicht anlaufen, wieso immer nur die Großproduktionen von den bösen Großverleihern anlaufen würden. Also, denkt sich Stéphanie, als sie zufällig an einen Haufen Geld kommt, investiere ich das kleine Vermögen nicht in ein kleines Haus oder eine Weltreise, sondern ich gründe meinen eigenen Filmverleih. Hurra, Traum wird wahr, alle sind glücklich. Mehr bessere Filme im Kino, Zufriedenheit auf allen Seiten.

grafik

evokative films

Oder auch nicht. Denn, wie sich heraus stellt, geht niemand mehr ins Kino. Evokative Films, so heißt Stéphanies Unternehmen, startet unter anderem Sion Sonos Hazard und Park Chan-wooks I’m a Cyborg, but that’s OK in Kanada: es ist schon schwer genug als Kleinverleiher, seine "weirden" Filme überhaupt in Mehrsaalkinos zu bekommen. Wenn sie dann aber nicht laufen, wenn sie sich keiner ansieht, dann fliegen sie bereits nach der ersten Woche wieder raus. "Das kann ich mir später auch noch anschauen", ist demnach eine gefährliche Haltung; zumindest mir ist es oft genug schon so gegangen, dass ich versucht habe, den Film in seiner zweiten Woche nach dem bundesweiten Start zu sehen, aber feststellen musste, dass er gar nicht mehr zu sehen ist. Schläfer oder Filme, die sich erst nach Mundpropaganda und dergleichen zu Erfolgen mausern, die darf es heutzutage gar nicht mehr geben. Wer kein Geld einspielt, fliegt aus den Kinotempeln. Draußen, vor den Mauern, warten schon dutzende weitere heimatlose Filme auf ein neues Zuhause, auf die Chance auf den großen Gewinn, auf die große Liebe.

mann mit waffe

evokative films

Sion Sonos "Hazard": einer von Evokative's Titeln. Mittlerweile kämpft der Kleinverleiher aus Kanada ums Überleben.

Sono und Park, das sind jetzt sicherlich keine Selbstläufer, aber es sind auch im Westen etablierte asiatische Regisseure, die sich, sollte man meinen, zumindest im urbanen Raum einer gewissen Beliebtheit erfreuen und Leute ins Kino locken sollten. Passiert aber nicht. Was auch immer die Gründe sein mögen und wie Stéphanie so schön schreibt: "How We Are All Responsible For Our Cultural Diversity, or How Freakin' Hard It Is To Get Your Bums In A Theatre's Seat."

Kino Zoo

Zugespitzt formuliert: nur da hocken und mosern, dass sein persönlicher Lieblingsfilm grad nicht in die Kinos gekommen ist, dann gar nicht mehr ins Kino zu gehen und das Begehrte illegal aus dem Netz saugen, ist vermutlich eine pragmatische, jedenfalls aber keine nachhaltige Lösung. Wenn wir nicht aufpassen, und da hat Stéphanie ganz recht, dann fault uns unsere kulturelle Diversität unter den Füßen weg. Denn selbst der größte Idealist wird aufhören, kleine Filmperlen vor die Säue zu werfen. In Österreich, würden wir rein der freien Marktwirtschaft folgen und keine Verleihförderung haben, wäre das Ergebnis desaströs: das Kinouniversum, zurückgestuft auf primitive Nachfragenbefriedigung, auf bloße Affekte.

Die jetzige Situation haben wir bis zu einem Stück weit selbst mit zu verantworten: um Kino zu begreifen, muss man eine Ahnung von den Abläufen bekommen. Wie schwierig es ist, als kleiner Verleiher den Zuschlag für einen Film zu bekommen. Wie hart man daran arbeitet, mit kleinen Budgets eine spannende Werbekampagne zusammen zu zimmern, wie lang man dafür kämpft, sein Kleinod in ein attraktives Kino zu bringen; Und wie enttäuscht man dann ist, wenn niemand kommt, um es sich anzusehen. Vielleicht weil man sich via Internet bereits die asiatische Originalversion mit flugs übersetzten Amateuruntertiteln besorgt hat: damit wird dann die Gier befriedigt, sonst aber passiert nichts. Man sitzt faul in seinem Zimmer und rundherum fällt die Welt zusammen, die man so liebt.

Soll heißen: Wenn nicht ein Umdenken stattfindet, dann werden wir bald nur mehr die Viennale und kleinere Filmfestivals haben. Artenschutz-Reservate, die gut und wichtig sind. Aber es muss darum gehen, die wilden Tiere wieder frei zu lassen. Und daran kann jeder mitarbeiten: ein kleiner Horrorfilm wie Rammbock etwa, der auf Festivals gut gelaufen ist und gute Presse bekommen hat, der stürzt dann im Kino gnadenlos ab, in Deutschland wie in Österreich. Ergo werden es sich die Verleiher zweimal überlegen, ob sie einen anderen unabhängig produzierten Genrefilm ohne Star-Schauspieler ins Kino bringen und damit Unmengen an Geld verlieren.

filmstill aus dem film "rammbock"

rammbock.koprax.at

Es geht um viel in den nächsten Jahren: vielleicht muss man sich Alternativrouten in der Verleihpraxis überlegen. Die Internetplattform Demand it! etwa macht den Konsumenten zum Entscheidungsträger: aktuell kann man etwa verlangen, dass die hervorragende Horrorkomödie "Tucker & Dale vs. Evil" in seiner Heimatstadt im Kino gezeigt wird. Melden sich genug, so dass es für den Verleih Sinn macht, wird er laufen. Partizipation statt stillschweigendem Abwarten. Ist das die Zukunft? Ich weiß es nicht. Vielleicht.

Empfehlungen für den Viennale-Sonntag

Meek’s Cutoff

31.10 18:00 Uhr Gartenbaukino

Kelly Reichardt inszeniert einen naturalistischen Post-Western: eine Pilger-Kolonne wird von Trapper Meek vom etablierten Oregon Trail abgebracht und verliert sich in der Ödnis Amerikas. Ein leiser, harter Film über Vermeinschaftung und Hass-Strategien, über die Angst vor dem Fremden und den Traum von Freiheit. Sinnstiftend und berauschend besetzt mit Michelle Williams, Paul Dano und Will Patton.

Frauen

Viennale

The Private Files of J. Edgar Hoover

31.10. 23:00 Uhr Stadtkino

Historien-Entertainment irgendwo zwischen nüchterner Wochenschau, Charakterstudie und Exploitation-Bildungsroman. Broderick Crawford glänzt als monolithischer FBI-Chef Hoover, der acht US-Präsidenten an der langen Leine laufen lässt, dass es eine Freude ist. Genre-Haudegen Larry Cohens seriösester Film: eine Studio über Machtverhältnisse, die zu unorthodoxen Schlüssen kommt.

Politiker

Viennale

Rocker

31.10. 23:00 Uhr Gartenbaukino

Ein wilder Ritt durch die Höhen und Tiefen des Improvisationskinos: Klaus Lemke & Team, umnebelt von diversen Drogen, erzählen von der Freundschaft zwischen einem Knaben und einem Rocker. Die Motoren röhren, die Sprüche sind legendär und fliegen im Sekundentakt. Ein hingerotztes Meisterwerk, bewusst- und besinnungslos und gerade deswegen so gut.

Männer, Rocker

ZDF/TV-Union