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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

29. 10. 2010 - 20:05

Saint Serge

Das Biopic "Gainsbourg" nähert sich einer der zentralen Ikonen des Pop. Aus diesem Anlass eine kleine Heiligsprechung eines göttlichen Saubartels.

Alleine in einem großen Kinosaal einen Film vorgeführt zu bekommen, das ist fast schon ein bisschen zuviel des Luxus. Das reicht an die Geniergrenze heran. Weil aber einige Pressekollegen ausgefallen sind, wird mir diese Ehre bei einem ganz besonderen Streifen zuteil.

Außergewöhnlich ist dieser Film für mich nicht wegen seines Regisseurs oder der Besetzung. Sondern, weil er sich um eine meiner ganz großen Ikonen dreht, einen Künstler, der mich seit Kindheitstagen begleitet, dessen wahre Bedeutung mir aber erst relativ spät bewusst wurde. Die Rede ist vom französischen Komponisten, Arrangeur, Sänger, Schauspieler und Lebemann Serge Gainsbourg.

Pop-Sensibilität und Rock'n'Roll-Provokation. Klassik-Background und Jazz-Gespür. High Art und Massenkultur. Unschuld und Perversion. Hardcore-Romantik und schwarzer Humor. All diese Gegensätze gingen bei dem Pariser eine knisternde Verbindung miteinander ein, die auch Musiker wie Franz Ferdinand, Placebo, Nick Cave, The Kills, Beck, Madonna, Air, Cat Power oder Jarvis Cocker maßgeblich inspirierte.

Gainsbourg (Film)

Filmladen

Wie nähert man sich so einer Legende, deren Leben längst in einem Reich von Mythen und Halbwahrheiten verschwunden ist? Am besten, indem man die Wirklichkeit gleich ganz ignoriert, entschied sich der Comiczeichner Joann Sfar, der mit "Gainsbourg - Vie héroïque"" seinen Debütfilm vorlegt.

Dass der Regisseur mit seinem rauschhaften Reigen surrealer und übersteigerter Bilder versucht, der üblichen Biopic-Biederkeit zu entgehen, ist lobenswert. Leider fallen Sfar aber manchmal nicht mehr als die erwartungsgemäßen Klischees vom kaputten Poeten ein, kratzen einige Szenen in ihrer Stilisiertheit nur an der Oberfläche dieser sagenhaften Existenz.

Dennoch, bevor ein Missverständnis aufkommt: "Gainsbourg - Vie héroïque" ist ein durch und durch sehenswerter Film.

Zum einen wegen Hauptdarsteller Eric Elmosnino, der neben seiner gespenstischen Ähnlichkeit mit dem Titelhelden auch dessen fiebrige Leidenschaftlichkeit auf den Punkt bringt. Und da ist auch diese unfassbare, faszinierende Musik. Irgendwann, alleine im dunklen Saal, wird sie mich in ihrer Schönheit zum Heulen bringen. Mesdames et Messieurs, es gibt nichts Besseres.

Der Mann, den ich privat Saint Serge nenne, beginnt in den fünfziger Jahren, Lieder zu schreiben. Lucien Ginzburg, der kleinwüchsige Sohn russisch-jüdischer Emigranten, bricht eine Karriere als Maler ab, wirft sich in eine nächtliche Pariser Dämmerwelt aus Jazzmusikern, Trinkern und Huren.

Serge Gainsbourg

phillips

Als Pianist in billigen Rotlicht-Bars verfeinert er sein Songwriting, saugt Boris Vian und Chopin, Debussy und De Sade ein, Bebop und Existentialismus. Mit "Le Poinçonneur Des Lilas", einer trockenen Moritat über einen Metro-Schaffner, den das monotone Löchern von Fahrkarten an den Punkt bringt, wo er sich ein Loch in den Kopf schießt, gelingt ihm der erfolgreiche Relaunch als Serge Gainsbourg.

Der neue Star am Chansonhimmel ist 30 und bekämpft sowohl seine Schüchternheit auf der Bühne als auch die ungewohnte Popularität mit Kampftrinken. "Auf einmal bin ich von Mädchen umgeben. Ich weiß nicht mehr, wohin mit ihnen, in meiner Einsamkeit. Ich war immer einsam, sogar als ich noch klein war."

Gainsbourg erklimmt rasch den Chanson-Olymp, im Grunde will er aber die starren Regeln des Genres brechen, das strenge Schwarzweiß-Szenario mit grellbunten Pop-Tupfern beschmieren. Black Music, vom frühen Jazz und Blues bis Soul, Mambo, Funk und später dann Reggae und Disco, wird fortan ein zentraler Einfluss, um dem leichten Mief der patriotischen Grande Nation einen swingenden Kontrast entgegenzustellen.

Dabei hört er aber nicht auf, das mythenschwangere Erbe von Rimbaud, Baudelaire und Lautréamont zu verschlingen. Die Gegensätze verschmelzen, Gainsbourg schafft das zuvor Unmögliche: urfranzösisch zu sein und doch ein Kosmopolit. Die Poesie umarmt den Pop, die Tradition tänzelt funky, und hinter den simpelsten Song-Trivialitäten steckt ein cleverer, obszöner, subversiver Subtext.

gainsbourg

Auf diese Weise revolutioniert Serge Gainsbourg zunächst den einheimischen Sixties-Röck'n'Röll, der sich damit zufriedengibt, die US-Vorbilder mehr schlecht als recht zu übersetzen. Serge bastelt an einer eigenen Variante, mixt Pop-Art-Ikonografie und geniale Ohrwurm-Refrains zu einem unwiderstehlichen Cocktail. Dann infizieren ihn die Kinks und Stones, in den Siebzigern wird er noch rockiger. Mit "Rock Around The Bunker" verlacht und verdreht er 1975 rechte Symbolik und nimmt damit den Punk-Schock vorweg.

"Provokation ist ein Panzer, Einsamkeit ein Kettenhemd, also bin ich wohl behütet", grinst Gainsbourg. 1979 der nächste Bruch, Frankreichs Liebling fährt nach Jamaica und spielt dort als erster Weißer mit der Band von Peter Tosh ein Reggaealbum ein. Seine verhatschte Dub-Version der Marseillaise reicht seinerzeit für einen handfesten Staatsskandal.

Als sich Gainsbourg in den Eighties auch an ultrasleazy Disco versucht, hat er längst die alten Stammhörer verloren. "Ich bin bereit, mein älteres Publikum gegen ein junges einzutauschen", grummelt der Ex-Chansonnier. "Publikum und Frauen sind das gleiche - immer wenn Frauen gleich alt wurden wie ich, kam es zur Trennung."

Es sagt auch viel über Gainsbourg, dass er einst einen Tanz namens La Décadanse kreierte, bei dem der männliche Partner von hinten seiner Herzensdame auf die Brüste greift. Serge et les femmes, ein Kapitel très dificile, schwankend zwischen Begehren, Verehren und grimmiger Misogynie. Seine Affairen sind ebenso Legende wie die Hits, die er für maßgebliche Sängerinnen des französischen Pop schrieb.

Jane Birkin & Serge Gainsbourg

Universal Music

France Galle und Françoise Hardy gehörten ebenso dazu wie die Actricen Brigitte Bardot, Isabelle Adjani oder Catherine Deneuve. Hinter manchem noch so naiven Liedchen ("Les Sucettes" mit der Songcontest-Gewinnerin Gall) verstecken sich dabei schlüpfrige Lolita-Ismen oder lautmalerische Wortspiele, ganz in der Tradition der Surrealisten und Dadaisten.

Mit der englischen Schauspielerin Jane Birkin verbindet ihn eine langjährige Amour Fou, die 1968 im Stöhn-Evergreen "Je T'aime...Moi Non Plus" gipfelt.

Jane B. und Serge G., ein Verhältnis, das der Popgeschichte viele der schönsten Frau-Mann-Duette ever beschert hat. Mit "Histoire de Melody Nelson" gelingt dem Meister des devianten Chansons 1971 sein absolutes Meisterwerk, das zur Blaupause für zukünftige Elektronik-Generationen wird.

1980 haut Jane Birkin mit den Kindern Kate und Charlotte aus der Gainsbourg-Villa ab. "Gainsbarre hat endgültig die Kontrolle übernommen", sagt sie und meint damit das fiese, zwielichtige Alter Ego ihres Ehemanns.

Gainsbourg (Film)

Filmladen

Gainsbarre, das ist der versoffene, monströse Mr. Hyde zum kultivierten Multitalent Monsieur Jekyll. Superstar Serge, der das Mittelmaß hasst, genießt den Rollenwechsel, stilisiert sich jenseits musikalischer Grenzüberschreitungen auch in persona zum wandelnden Gegensatz. Hier der Zyniker und Agent Provocateur, dort der liebevolle Vater, geniale Auftragskomponist. Andauernd kollidieren Aggression und Zärtlichkeit, kommen sadomasochistische Quälereien im Easy-Listening-Kostüm daher.

Eine Kombination, die von Gainsbourgs Zeitgenossen nicht verstanden wurde, ihn aber zum Role Model sämtlicher Jarvis Cockers des Planeten machte. "Er präsentierte sich selbst mit so einer Mischung aus Abscheu und Leidenschaft", beschrieb es Beck, "diese Kombination ist aufregend und auch sehr aktuell."

Monsieur Gainsbourg starb 1991 mit 63 Jahren an einer Mischung aus Zirrhose, Leberkrebs, Diabetes, Blindheit, Atemschwierigkeiten und Lungenproblemen. 80 filterlose Gitanes rauchte er am Schluss pro Tag.

"Das Leben ist ein gleichseitiges Dreieck, mit den Spitzen Alkohol, Tabak und Sex", lautete das Credo des Mannes, der Frankreich und der Welt Lektionen in kunstvoller Überhöhung und Glamour, in Exzentrizität, Durchgeknalltheit und (un-)würdigem Altern beibrachte. "Ich bin nicht von dieser Welt, aber auch von keiner anderen", sagte Saint Serge einmal.