Erstellt am: 3. 1. 2011 - 15:02 Uhr
"Mama hat heute ein Schiff versenkt"
Fogwill wird der argentinischen Literaturszene fehlen. Darin war man sich auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2010 einig. Einen Monat zuvor war Rodolfo Enrique Fogwill, Provokateur, im Alter von 69 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Die erstmalige Übersetzung seines berühmtesten Romans "Die unterirdische Schlacht" (im Original "Los Pichiciegos") ins Deutsche erlebte er nicht mehr.
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"Die unterirdische Schlacht" wird bis heute als die gelungenste literarische Behandlung des "Guerra de las Malvinas", bei uns besser als Falklandkrieg (April bis Juni 1982) bekannt, bezeichnet. Mit der Besetzung der Falkland-Inseln wollte die argentinische Militärdiktatur zu Beginn der 1980er von den wirtschaftlichen Problemen des Landes ablenken und den nationalen Zusammenhalt stärken. Patriotische Propaganda beherrschte die argentinischen Medien und mit einem dieser Propagandasätze beginnt auch Fogwills Roman.
"Wir haben heute ein Schiff versenkt" teilt Fogwills Mutter ihrem Sohn voller Stolz mit und, dass Mama ein Schiff versenkt hat, inspiriert Fogwill zu einem Roman, dessen Entstehung die argentinische Zeitung Clarin in einer unmöglichen Formel ausdrückt: 6 + 12 = 1
Die 6 steht darin für die sechs Tage zwischen dem 11. und 17. Juni 1982, in denen Fogwill "Die unterirdische Schlacht geschrieben haben soll", 12 für zwölf Gramm Kokain, die er in dieser Zeit konsumiert habe und die 1 für den Roman der daraus resultierte.
"Die unterirdische Schlacht" verhandelt den Krieg nicht in der Abstraktheit von Geschichtsbüchern, die Gründe, Auslöser oder den Verlauf des Konflikts nachzeichnen, sondern konkret an einer Gruppe von jungen argentinischen Wehrpflichtigen. Propaganda findet hier keinen fruchtbaren Boden mehr vor. Die schnörkellose Schilderung ihres Kriegsalltags und Überlebenskampfes hebt "Die unterirdische Schlacht" auf Augenhöhe mit den großen Antikriegsromanen des 20. Jahrhunderts.
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Der erste Satz mit Schnee: ist zugleich der erste Satz im Buch: "So sah doch Schnee nicht aus, meinte er. Nicht gelb wie Pudding, klebriger als Pudding. Pappig, teigig. Klebt an der Kleidung, kriecht in die Mantelöffnungen, dringt in die Schnürstiefel, suppt durch die Strümpfe. Und dann spürt man ihn, kalt, zwischen den Zehen."
Der Schnee fällt in: Argentinien, - oder England; genauer gesagt auf den Falkland Inseln bzw. den Islas Malvinas
Simon Welebil
Darum geht's: Eine Gruppe argentinischer Wehrplichtiger desertiert während des Falkland-Krieges und errichtet sich eine Höhle in den Bergen. Dort wollen sie das Ende des sinnlosen Krieges abwarten. Wer ihn gewinnt, ist den jugendlichen Deserteuren egal, hauptsache sie überleben. Sie bestehlen die Argentinier und kollaborieren mit den Engländern, um Zigaretten, Essen und Baumaterial zu bekommen. Ihre Höhle können die Deserteure nur nachts verlassen, um ihren Standort nicht zu verraten. Tagsüber reden sie über Sehnsüchte, Politik oder die elementaren Bedürfnisse des Lebens, etwa wie man seine Notdurft verrichten soll, wenn es kein Desinfektionsmittel mehr gibt.
rowohlt verlag
So liest sich das: "In die Hose scheißen! Wer in die Hose scheißt stinkt, wird wund. Er verpestet alles. Wer wund ist, kann sich infizieren, und dann kriegt er Fieber. Das größte Unglück ist, wund zu sein, zu stinken, sich zu infizieren, Fieber zu bekommen und von allen verflucht zu werden wegen des Geruchs, der aus der Kleidung steigt."
Schnee steht als Metapher für: Die Wahrheit - den absurden, sinnlosen und brutalen Krieg. Der Schnee sieht nicht so aus, wie ihn die Argentinier aus dem Fernsehen kennen, er ist nicht weiß, rein und unschuldig, sondern gelb und dreckig.
Weiße Pracht oder weiße Gefahr: Weiße Gefahr: Die wenigsten argentinischen Wehrpflichtigen sind zuvor mit Schnee in Berührung gekommen. Sie wissen nicht, wie sie sich in einer Schneelandschaft verhalten sollen und sind auch nicht für einen Winterkrieg ausgerüstet. Im Freien erfrieren sie, stürzen über die steilen Bergflanken, oder werden Opfer der Tretminen, die vom Schnee verdeckt sind. In der Höhle ist der Schnee eine ständige Bedrohung für ihre Frischluftzufuhr.
Eine Leseprobe gibt es hier
Schneesorte: feinster Pulverschnee, zumindest zum Lesen. Packend und aus einem Guss geschrieben, mit witzigen Dialogen und kompromisslosen Einblicken in argentinische Zeitgeschichte.
Ist wärmstens zu empfehlen für: alle, die nationalistische Propaganda nicht mehr hören können und Heldengeschichten satt haben, besonders aber für Wehrdienstverweigerer und Bundesheer-Angehörige.