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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

23. 10. 2010 - 14:41

Vlog #2: Das große Warten

Muscheln suchen im kalten Wetter macht keinen Spaß. Gedanken zu ein paar US-Filmen auf der diesjährigen Viennale.

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Was sind denn die Fragen, die man als Kinozuseher stellen darf, ohne dass einem dabei die Souveränität als Wahrnehmender aberkannt wird? Gestern nach einem anstrengenden Arbeitstag tragen mich die Stufen runter ins bauchige Keller-Foyer des Stadtkinos, es riecht hier irgendwie nach Untergrund, nach Geheimnissen. Ein kurzer Gedankenaustauch mit einem geschätzten Kollegen, wie es eben oft passiert auf einem Filmfestival: Sharon Lockhart, sage ich, der ich mich zugegeben immer nur zufällig für das Avantgardekino interessiere, mich aber immer wieder dafür begeistern kann, die kenne ich nicht. Aha, aber das sei schon eine recht bekannte Regisseurin, heißt es dann. Ja, die kenne man schon. Man meint in diesem Fall nicht mich, ich tröste mich damit, nicht alles kennen zu können und gehe, meinen Wahrnehmungsapparat auf offenen Kanal gestellt, in den Saal, bereit für alles, bereit zu lieben.

Schwarz

Sixpack

Black Death Filter, Dietmar Brehm

Jetzt darf ich mal vorausschicken, dass ich minimalistischem Kino sehr wohl etwas abgewinnen kann: immer wieder denke ich daran, wie ich dereinst Black Death Filter des vielleicht lässigsten österreichischen Regisseurs (und inoffiziellen Bruce LaBruce-Doppelgängers) Dietmar Brehm gesehen habe. Minutenlanger Schwarzfilm, der Publikumsraum wird zum Kino: die Leute werden unruhig und nervös, einige beginnen zu plaudern, man versteht alles. Ist da jetzt was kaputt, meint einer links hinter mir. Wann der Film endlich losgehe, will die Frau neben mir wissen. Ein Spektakel durchs Nicht-Spektakel, dass nichts passiert, führt zu einem aufregenden Abend im Kino.

Muscheln

Gestern dann, ich stelle mich ein auf Transzendenz durch Kontemplation, aber es will nicht, es kann nicht passieren. Double Tide von Sharon Lockhart. Ich sehe ein Wattmeer in einer fixierten Einstellung, Ebbe in Maine: eine Frau geht durchs Bild, zieht einen Schlitten hinter sich her, der über den fetten Schlamm gleitet wie über Eis. Der Horizont ist verschleiert von blickdichtem Nebel, die Frau greift immer wieder in den Grund, um Muscheln zu suchen. Zieht sie ihre Hand heraus, gibt es schmatzende Geräusche wie aus der Soundeffekt-Galerie von Troma. 45 Minuten lang. Ab und an spaziert ein Vogel ins Bild, ein Nebelhorn ist zu hören. Dann nochmals 45 Minuten, vermutlich am nächsten Tag: die Sonne scheint. Sonst ist alles gleich.

Wattmeer

Viennale

Meine begeisterte Kontemplation verwandelt sich in stählerne Langeweile: zurück genommen und kühl wirken diese Bilder, nichts will mir Lockhart über diese Frau verraten, ich komme ihr nicht näher, muss mich mit der Panoramaeinstellung begnügen. Wieso? Harte Kunst ist das, die mir alles verwehrt, was mir gefallen würde; die sich selbst vieles verwehrt. Zurück bleibt nur das Leiden. Keine Erfahrungen mehr: es bleibt für mich ein Landschaftsausschnitt mit einem Menschen. Ich fühle nichts und plane bereits, mir eine RED-Kamera zu organisieren und mich frühmorgens auf einem Bergkamm in meiner Heimat im Tiroler Unterland zu positionieren: da kann ich dann Bauern bei der Arbeit filmen, während im Hintergrund der Hochnebel wabert. Komm ich dann auch auf der Viennale? Das wäre was.

Aber nein, Zynismus ist mir fremd. Dennoch: ist das Kino für ewige Stadtmenschen, die im kühlen Minimalismus einer Naturaufnahme Ruhe suchen? Eine Ruhe, über die ich nur lachen kann: als Jugendlicher sitze ich oft stundenlang im Wald hinter meinem Elternhaus, das Kino kann da nur einen Hauch dieser sensorischen Sensation hinüberretten in den muffigen Saal. Es tut mir Leid: in diesem Fall ziehe ich die Welt vor.

Arschkalt

Später grinse ich ein wenig vor mich hin, denke an die vielen schlafenden Menschen um mich herum. Wie zufriedene Kinder haben sie ausgesehen, vielleicht ist das auch die raison d'être dieses Films gewesen. Ich jedenfalls suche weiter, entscheide mich für Cold Weather, ein Film aus dem kühlen Portland von Aaron Katz. Ich höre: Slacker-Porträt wird zum Krimi. Ich denke: spannend. Ich sehe: nichts dergleichen. Ja, die Hauptfigur ist ein Typ mit einem dermaßen eingeschlafenen Gesichtsausdruck, dass ich ihm regelmäßig in den Hintern treten möchte. Prokrastinier' du so viel du willst, aber ich will nicht dabei zuschauen müssen. Dann bekommt er einen Job: in einer Eisfabrik schupft er die kalten Packerl hin und her, nebenbei freundet er sich mit einem Kollegen an. Nein, die Dialoge sitzen einfach nicht, schon am Anfang nicht. Spieleabende mit Schwester und Ex-Freundin, es wird getrunken und geplaudert. Rauchen tut hier keiner. Es interessiert mich alles nicht.

Wasserfall

Aaron Katz, USA 2010, Viennale

Genau zwei schöne Bilder ringt Katz seiner Geschichte ab: hier ist eines davon. Slacker mit Ex-Freundin vor gewaltigem Wasserfall.

Plötzlich dann doch Bewegung, das muss wohl der Krimi sein, von dem ich gelesen habe. Eine junge Frau (die Ex-Freundin) verschwindet aus einem Motelzimmer, der Slacker findet rätselhafte Hinweise und geht ihnen nach. Schon zuvor hat Katz mit der Faszination seiner Hauptfigur für "Sherlock Holmes" das detektivische Motiv eingeführt. Um Himmels Willen, wie konstruiert das alles ist. Ein Krimi muss schon ein wenig glaubwürdig sein, damit ich mit fiebere. Keiner geht zur Polizei, recherchiert wird in Bibliotheken (hallo, Internet?), irgendwann beschatten sie einen Verdächtigen so offensichtlich, dass ich nur mehr lachen kann. Am Ende, eh klar, geht’s gar nicht darum, den Fall zu lösen, sondern darum, dass sich Bruder und Schwester wieder einander annähern.

Mann

Aaron Katz, USA 2010, Viennale

Und das zweite gute Bild aus "Cold Weather": Slacker verfolgt Cowboy

Tränen

Da darf ich doch gleich mal den Blick hinlenken auf den besseren amerikanischen Film dieser Viennale. Matt Porterfield erzählt in Putty Hill von Randbezirken in seiner Heimatstadt Baltimore, von einer losen Gemeinschaft, die zusammen kommt, nachdem einer aus ihrer Mitte an einer Drogenüberdosis stirbt. Es geht ums Verstehen, Verarbeiten und Verzweifeln, ums Hoffen, Trauern und Lachen. Ein kleiner Film also über das Leben selbst, von Porterfield mit Laiendarstellern inszeniert, die er eigentlich für ein anderes Projekt namens "Metal Gods" gefunden hat.

Junge

Joyce Kim

Ein Metal God in "Putty Hill"

Ewige Momente: ein Paintball-Turnier im Wald, der Gesang einer Mutter, Ausschreitungen beim Karaoke-Abend. Porterfield wirft viel Licht und Schatten auf diese Menschen, die auch immer wieder direkt in die Kamera sprechen, als wären sie Teilnehmende an einem Dokumentarfilm. Von mir jedenfalls eine Empfehlung für diesen fragilen, doch stabilen Film, der bewegt ohne Gefühlsreiterei. Gestern Nachmittag habe ich Matt Porterfield zu mir ins Studio eingeladen. Das ungeschnittene, zweiteilige Gespräch gibt’s hier zum Nachhören.

Empfehlungen für den Sonntag

Q - The Winged Serpent

24.10. 13:30 Uhr Metro
31.10. 23:30 Uhr Urania

Ein 80er-Movie als Monsterfilm-Meisterstück vom großen Larry Cohen: der aztekische Gott Quetzalcoatl mordet sich durch New York City, auf der Spitze des Chrysler Buildings hat er sich sein Nest gebaut. Ein launiges, klassenbewusstes, dennoch vollkommen der Unterhaltung gewidmetes Lehrstück in effektiver Genre-Erzählung mit exzessiven Einsprengseln. Produziert vom alterehrwürdigen Samuel Z. Arkoff-Schundstadl, bestückt unter anderem mit Cohen-Stammschauspieler Michael Moriarty. Sensation!

Monster

Viennale

Kaboom

24.10. 13:00 Uhr Gartenbaukino
26.10. 11:00 Uhr Künstlerhaus

New Queer Cinema-Ikone Gregg Araki versetzt die trash-bewussten Jugendstudiendekonstruktionen vom Anfang seiner Karriere mit Hochglanzoberflächen und viel postmodernem Bewusstsein. Das Resultat ist ein eineinhalbstündiger Dadaismus-Komplex, durch den der attraktive Junge Thomas Dekker zugedröhnt, angefüllt von Wahnsinnsvisionen turnt, während sich die Erde ihrem Ende entgegen dreht. Verdammt weird, verdammt sexy.

Mann,

Gregg Araki, USA/F 2010, Viennale

Mein aktueller Desktop-Hintergrund

Balada Triste de Trompeta

25.10. 01:00 Uhr Gartenbaukino (Nacht von 24. auf 25. 10.!)

Der spanische Regie-Exzentriker Alex de la Iglesia legt seine bisher beste Arbeit vor: ein barock überfrachteter Fiebertraum von einem radikalpolitischen Film über mehrere Zeitebenen hinweg. Ein Clown wird vom Franco-Regime vernichtet, dessen Sohn entwickelt daraufhin eine Psychopathologie und wird zum weiß geschminkten Racheengel. Frenetisches Unterhaltungskino, angefüllt mit politischen und religiösen Querverweis-Labyrinthen: die Monstren des Kinos treffen auf monströse Wirklichkeiten. Rauschhaft.

Clown

Balada triste de trompeta Alex de la Iglesia, E/F 2010, Viennale