Erstellt am: 22. 10. 2010 - 11:24 Uhr
Vlog #1: Eine Glaubensfrage
Weitere Artikel zur Viennale
Es ist wieder einmal Zeit für einen Rausch. Einen Rausch der Bilder, Eindrücke, Geschichten, zufälligen Bekanntschaften. Viennale ist. Und jedenfalls ein Gutteil der am Kino interessierten Wienerinnen und Wiener wird sich wohl das eine oder andere Mal in einem der Festivalkinos einfinden. Irgendwas liegt dann über dieser Stadt, ein Geruch von Aufbruch und wildem Interesse, der den miefigen Alltagsgrant und den Suderantengestank weg bläst. Endlich wieder Optimismus im graugrauen Herbst, mit seinen verfärbten Blättern, die am feuchten Asphalt picken bleiben. Endlich wieder Gartenbau, Metro, Künstlerhaus, Urania und Stadtkino; Häuser, die ich während des Jahres selten von innen sehe.
Aber ja, regelmäßige Leser meines Viennale-Journals wissen bereits, dass ich zum größten heimischen Filmfestival eine sehr leidenschaftliche, aber nicht notwendigerweise immer harmonische Beziehung pflege. Was hier erscheint, das sind meine persönlichen Eindrücke und Gedanken zu den Filmen und allem Drumherum; und die erheben natürlich nicht den Anspruch auf universelle Wahrhaftigkeit, sind momentane Empfindungen, die ich nicht selten schon am Tag darauf anders formulieren und nieder schreiben würde.
Genau darin aber liegt der Reiz eines so direkten Kommunikationsmediums: dass ich eben jeden Morgen, den Kopf noch angefüllt mit den Erlebnissen vom letzten Tag, damit zubringe, zu verarbeiten, zu verdauen, zu tippen. Ich gehe heuer sehr unvorbereitet in die Viennale: planlos, ziellos, offen für alles. Nur einen Fixpunkt, den hab ich mir rausgestrichen: Larry Cohen nämlich, Übervater des unabhängigen amerikanischen Genrekinos, ein veritabler Wunderwuzzi und Vielkönner, dem heuer eines der Tributes gewidmet ist.
Von Menschen und Göttern
Ganz am Anfang, da herrscht noch diese Aufbruchsstimmung, jedenfalls der diesjährige Eröffnungsfilm Des hommes et des dieux lässt mich hoffen auf eine insgesamt pipifeine Auswahl. Ich fühle sie immer noch, die Träne, die an meiner Wange entlang gelaufen ist und sich im Zehntagesbart verirrt hat, als ich Xavier Beauvois’ Film im vergangenen Mai in Cannes gesehen habe. Es war aber kein sentimentaler Dampfhammer, der mich da getroffen hat, vielmehr war ich überwältigt von der Klarheit, Reinheit und Schönheit dieses Films, der die Geschichte von Trappistenmönchen in Algerien erzählt.
Dort arbeiten und beten sie in einem Kloster, gelegen auf einer Anhöhe, die über die nordafrikanische Landschaft und einige Dörfer blicken lässt: ein liegen gelassenes Artefakt der französischen Kolonisten, irgendwie am Leben gehalten von diesen in sich ruhenden Brüdern, die, wie Regisseur Beauvois während der Pressekonferenz in Cannes so schön gesagt hat, "im Gegensatz zur Restgesellschaft, die immer haben, machen und tun will, einfach nur sind."
Marie-Julie MAILLE Armada Films/Why Not Productions, Cannes
Das Sein wird allerdings zur Herausforderung, als Mitte der 90er Jahre Gewalttaten islamistischer Fundamentalisten zunehmen, die sich vorwiegend gegen in Algerien lebende Ausländer richten. Die Nachricht von ermordeten Straßenarbeitern macht schnell die Runde, die Brüder beratschlagen schließlich, ob sie das Land und die Leute, die sie medizinisch versorgen und seelisch betreuen, verlassen und fliehen sollen; oder ob sie bleiben und ihr Leben in Gottes Hände legen. Das Abstraktum der gelebten Spiritualität bricht Beauvois in seiner unaufgeregten Erzählung herunter auf eine konkrete Glaubensfrage: unvergesslich sind mir die Gesichter des großartigen Lambert Wilson und des übermächtigen Michael Lonsdale; erhaben ist, wie der Regisseur einen Regierungshubschrauber über dem Kloster kreisend zeigt, während die Mönche in der Kirche immer lauter werden, gegen den Fremdkörper am Himmel ansingen.
Konkrete, vielsagende Bilder kratzt Beauvois aus dem schwierigen Thema heraus, lässt seine Geschichte von Menschen und Göttern schließlich im Schnee auslaufen, mit der belegten historischen Begebenheit, die schon von Anfang an einen Schleier über den Film legt. Zurück bleiben Augenblicke, Blicke und die Anmut von Traurigkeit und Verzweiflung. Ein ganz großer Film.
Supermarkt der Kleinodien
In diesem Jahr war es wie in allen Jahren zuvor, dass jene Filme am schnellsten ausverkauft waren, die dann ohnehin einen regulären Starttermin in den österreichischen Kinos haben. Immer wieder verwirrt es mich, dass die Viennale-Besucherschaft (obwohl natürlich keine homogene Masse), ihre Offenheit für alle möglichen filmischen Gangarten fast wie einen Panzer vor sich her schiebt, zu Protokoll gibt, hier und jetzt Filme sehen zu können, die eben sonst nie den Weg ins Hier und Jetzt gefunden hätten, um dann nicht nur, aber vor allem zu den Programmpunkten zugreifen, die auf der Viennale durchlauferhitzt werden und in wenigen Wochen oder Monaten eh ins Kino kommen. Geht es dabei dann darum, sich über die Erstseherfahrung bei Anderen zu profilieren, wartet man dann nur auf Gelegenheiten um Dinge wie: "Hey. Auf der Viennale hab ich letztens 'Machete' gesehen. Der ist Wahnsinn. Kommt nächste Woche ins Kino. Schau ihn dir an!" sagen zu können? Egal. Ich hab mich grad vorhin noch ein wenig auf der Viennale-Homepage umgesehen und will Empfehlungen für folgende Kleinodien aussprechen, die ganz bestimmt nach der Viennale in keinem österreichischen Lichtspielhaus mehr zu finden sein werden.
22.10. 11:00 Uhr Urania
03.11. 20:30 Uhr Stadtkino
Knapp über zwanzig Jahre alt ist Regisseur Pepe Diokno: in seinem gut einstündigen Debütfilm erzählt er den klassischen Konflikt zwischen zwei Brüdern im unorthodoxen Slum-Setting mitten in Manila nach. Der eine will mit seiner Freundin dem Gewaltdampfkessel entkommen, der andere wird immer tiefer in die Unterbauchwelt aus Unsicherheiten, Drogenräuschen und Selbstvergessenheit reingezogen. Ein feistes Melodram als dynamischer Verité-Thriller, eine der großen Entdeckungen des letzten Kinojahres.
Engkwentro, Pepe Diokno, Philippinen 2009, Viennale
22.10. 13:00 Uhr Gartenbaukino
30.10. 21:00 Uhr Urania
Auftakt zum sensationellen Tribute an Larry Cohen mit einem seiner bekanntesten Filme: eine Blaxploitation-Gemme, modelliert nach dem großen Gangsterfilmklassiker "Little Caesar" aus den 30ern, mit Urvieh Fred Williamson als Unterwelt-Entrepreneur, der mindestens ebenso aufregend und sinnstiftend vom System zermalmt wird, wie Edward G. Robinson im Vorbildfilm. Und all das noch im Gartenbaukino: Pflichttermin!
Black Ceasar, Larry Cohen, USA 1973, Viennale
22.10. 16:00 Uhr Metro
Die bildgewaltige Selbstfindungsreise eines arbeitslos gewordenen haitianischen Lehrers, der sich zuerst mit Tagelöhnerjobs auf Baustellen über Wasser hält, bis er dem ausbeuterischen System den Rücken kehrt, seinen Selbstwert erkennt und sich zu einem autarken Leben im Wald entschließt. Die zweite Filmarbeit der beiden Regisseure Laura Amelie Guzmàn und Israel Càrdenas-Ramírez ist ganzheitlich weise und außergewöhnlich bewegend. Nur ein Screening!
Jean Gentil, Laura Amelia Guzmàn, Israel Càrdenas Ramírez, Dominikanische Republik/Mexiko/D, 2010, Viennale