Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Wo beginnt Islamismus?"

Michael Fiedler

Politik und Spiele, Kultur und Gegenöffentlichkeit.

20. 10. 2010 - 11:00

Wo beginnt Islamismus?

Alice Schwarzer gibt darauf in dem von ihr herausgegebenen Buch "Die große Verschleierung" eine klare Antwort. Und macht es sich sehr einfach.

Ein Mann namens Thilo Sarazzin, den noch vor Kurzem selbst in Deutschland kaum jemand gekannt hat, tippt nach einem Interview im vergangenen Jahr schnellschnell den geplanten Skandal in Buchform runter und schon ist die große Debatte über die Ausländer und die islamistische Parallelgesellschaft wieder aufgeflammt.

Verschleierung, das kann eine Menge sein: Das Kopftuch ist die wohl verbreiteteste, weil einfachste Form; der Tschador, bei dem nur das Gesicht und die Hände unbedeckt sind; der Çarşaf oder Niqab, bei denen die Augen frei bleiben; und die Burka, die auch diese verdeckt.

Und als ob ein abgehobener, von Vorurteilen und stereotypen Rassebildern bestimmter Mann nicht reichen würde, legt die deutsche Feministin Alice Schwarzer nach: Die große Verschleierung heißt das von ihr herausgegebene Buch reißerisch, Für Integration. Gegen Islamismus. lautet der Untertitel. Und der täuscht: Denn um Integration dreht sich Die große Verschleierung nicht wirklich. Nur um den Islamismus, diesen schwammigen, aber gerade deshalb so gerne verwendeten Überbegriff für alles muslimische, das wir irgendwie nicht mögen oder das uns nicht mag. In fünf Teilen versuchen sich Schwarzer und ihre Mitautorinnen an diesem Begriff abzuarbeiten. Mit Beiträgen aus den letzten Jahrzehnten Emma, mit Reportagen aus islamischen Ländern, mit Erfahrungsberichten von Frauen mit dem fundamentalen Islam.

Alice Schwarzer

Radio FM4

Alice Schwarzer 2009 zu Gast bei FM4

Schwarzer zieht eine scharfe Grenze zwischen dem moderaten, integrierbaren Islam und dem frauenverachtenden, staatszersetzenden Islamismus - und die liegt für sie exakt zwischen Tragen und Nicht-Tragen des Kopftuches. Im Interview (am Ende dieses Artikels vollständig zu hören) darauf angesprochen sagt sie: "In diesem Buch sind solche Wahnsinnsbeiträge, wo gezeigt wird, wie die Islamisten in der Offensive sind; Musliminnen aus diesen Ländern schreiben selber über ihre Verzweiflung, wie sie in Lebensgefahr sind und Sie reden immer vom Kopftuch, also das Kopftuch scheint sehr wichtig zu sein." Aber das Kopftuch ist nun mal Grundlage des Buches: Nicht nur im Titel, in 27 von 30 Kapiteln kommt der Schleier in irgendeiner Form vor.

* Alice Schwarzer: Die Große Verschleierung,
S. 15

"Das Kopftuch ist ... weltweit die Flagge der Islamisten."*

Natürlich kann das Kopftuch ein politischem Symbol sein. Es steht oft für extrem-patriarchale Strukturen. Und der Schleier ist das sichtbarste Zeichen des Islam in Europa. Aber wenn Schwarzer es als das Symbol des Islamismus bezeichnet, macht sie es sich doch ein bisschen leicht. Jede muslimische Frau, die das Kopftuch trägt, wird in "Die große Verschleierung" entweder vom Vater, Bruder, Ehemann dazu gezwungen oder ist von einem Imam bzw. Mullah dahingehend gebrainwasht worden. Im Interview unterscheidet Schwarzer: "Die subjektive Bedeutung, warum eine Frau ein Kopftuch trägt, kann durchaus sympathisch sein und legitim." Und weiter: "Aber die objektive (Bedeutung, Anm.) bleibt, dass das islamistische Kopftuch und der Tschador die Flagge der Islamisten ist." Das klingt schon ganz anders.

emma buch

Dennoch: In "Die große Verschleierung" schummeln sich Schwarzer und ihre Mitautorinnen mit der sehr einfach gestrickten Definition von islamischem Extremismus, der in Europa immer mehr um sich greife, um die eigentliche Diskussion herum: Sind Staat und Religionen tatsächlich so getrennt, wie es für die Gesellschaft gut ist? Das französische Kopftuchverbot wird in mehreren Kapiteln als vorbildhaft für eine europäischen Regelung erwähnt. Nur ein einziges Mal wird auch dazugesagt, dass dieses Kopftuchverbot gar keines ist. Es ist das Verbot, deutliche religiöse Zeichen (eine Ausnahme wären etwa kleine Anhänger) in der Schule zu tragen. Dazu gehören auch die Kippa oder der Dastar. So machen die Autorinnen, allen voran Herausgeberin Schwarzer aus Laizismus Anti-Islamismus.

Damit erfüllen sie ihren Vorwurf an die Linke, sie würde sich aus falsch verstandener Toleranz dem Islamismus unterwerfen, mit umgekehrten politischen Vorzeichen selbst: Mit der Definition des Kopftuches als islamistisch nähern sich Schwarzer und ihre Mitautorinnen ihren bisherigen Erzfeinden an, den Konservativen, den Rechten, den Rechtsextremen. Dort ist das Kreuz um den Hals und im Klassenzimmer auch nie ein politisches Symbol, das fundamentalchristliche Verhütungs- und Abtreibungsverbot kein Unterdrückungsversuch, die katholische Kirche kein klassisches Idol des Patriarchats. Aber das Kopftuch, das ist ein Zeichen für Rückständigkeit und Segregation.

Anstatt also eine grundsätzliche Islam- und damit Religionskritik zu üben, werden die unseren (ach so) aufgeklärten Werten widersprechende Regeln des Koran, als Frau ein Kopftuch zu tragen, nicht als Regel des Islam, sondern als Regel des Islamismus dargestellt: "In diesem Buch wird nicht vom Islam geredet. Der Islam ist für mich Glaubensfrage und Privatsache. Ich rede lediglich von der politischen Funktionalisierung des Glaubens. Also ich rede ausschließlich vom Islamismus. Vom Fundamentalismus." sagt Schwarzer in der Sendung im Dialog. Als ob man so klar sagen könnte, ab wann Glaube politisch funktionalisiert wird. Als ob sie bestimmen könnte, wo die Freiwilligkeit beim Tragen des Kopftuches endet. Das können ja nicht einmal muslimsiche Frauen selbst so genau sagen.

Bei all diesem definitorischen Herumgeeiere bedient sich Die große Verschleierung bewährter populistischer Methoden: Alles Zahlenwerk darin deutet auf eine Fundamentalisierung der (männlichen) muslimischen Bevölkerung hin, Gegenargumente werden erwähnt und spöttisch abgetan, besonders krasse Einzelfälle zeichnen das düstere Bild der Scharia, die sich aus den Banlieus ihren Weg an die Macht über ganz Europa bahnt. "Es gibt eine Offensive der islamistischen Organisationen in Deutschland - und ich fürchte in Österreich haben Sie sie bisher nur übersehen - sozusagen schleichend die Scharia einzuführen." sagt Schwarzer im Interview mit FM4.

"Islam versus Islamismus - diese Unterscheidung ist ebenso notwendig wie schwierig und treibt manchmal geradezu absurde Blüten", heißt es in die große Verschleierung. Das Buch ist leider gerade eine solche Blüte: Ein grelles Warnschild, überzeichnet und marktschreierisch - als würde Europa kurz davor stehen, die Burkapflicht für alle Frauen einzuführen. Natürlich hat der Schleier in der Schulklasse nichts verloren, auch muslimische Mädchen sollen Sexualkundeunterricht erhalten und gemeinsam mit ihren Klassenkollegen Schwimmen lernen können. Trotzdem ist das Kopftuch nicht per se mit Islamismus gleichzusetzen. Und Musliminnen haben in Europa oft ganz andere Probleme (vgl. Weder Terror-Sympathisantinnen noch Unterdrückte - Was sagen muslimische Mädchen und Frauen zu Kopftuchdebatte und Islam(ismus)kritik?) als die sich die Frage zu stellen, ob sie ein Kopftuch tragen sollen, dürfen, müssen.

Das vollständige Interview mit Alice Schwarzer zu ihrem neuen Buch Die große Verschleierung:

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Islam-Schwerpunkt in Connected von 15 bis 19 Uhr am 20. Oktober:

* Muslimische Frauen werden unterdrückt und zwangsverhüllt. Ein nicht zwangsläufig zutreffendes Klischee, dem nicht zuletzt Alice Schwarzers neues Buch "Die große Verschleierung" Vorschub leistet. Michael Fiedler hat mit Alice Schwarzer gesprochen

* Mit "Muslim Girls - Wer wir sind, wie wir leben" hält die junge deutsche Autorin Sineb El Masrar dieser Sichtweise die vielschichtige und oft völlig autonome Lebenswirklichkeit junger Musliminnen in Deutschland entgegen. Barbara Köppel stellt das Buch vor, und spricht mit zwei Musliminnen aus Wien über ihren Alltag.

* Islamisches Gymnasium: Die Debatte rund um die Verschleierung muslimischer Mädchen hat zuletzt durch Alice Schwarzers Buch neuen Aufwind erhalten, aber auch Widerstand regt sich, wie im Buch Muslim Girls. In Wien gibt es ein Islamisches Gymnasium. Hier gehen besonders viele muslimische Mädchen in die Schule. Irmi Wutscher war dort und hat herausgefunden, was an der islamischen Schule anders, und was gleich ist wie an anderen öffentlichen Schulen.