Erstellt am: 13. 9. 2010 - 15:35 Uhr
Das große Fragezeichen
Am Anfang steht rückhaltlose Begeisterung. Das Berlin Festival 2010 präsentiert sich quasi als Antithese zu all den sommerlichen Freiluftspektakeln, mit denen ich mir zugegeben ein bisserl schwer tue.
Zum einen ist da der Ort: Mitten in der deutschen Metropole gelegen, auf dem Gelände des ehemaligen Flughafen Tempelhof, dazu größtenteils überdacht, braucht man sich weder vor Schlamm und Staub noch vor horriblen nächtlichen Abreiseszenarien aus der Pampa fürchten.
Und dann dazu dieses Programm: Ohne von Zeltfest-Rock, Kindergarten-Emo und den dazugehörigen Fanscharen belästigt zu werden, liest sich die Liste der auftretenden Acts vorab wie ein feuchter Indie-Disco-Traum. Große Namen und vielversprechende Newcomer reihen sich aneinander, fast alle an der Schnittstelle von Electro und Gitarren angesiedelt.
Als dann am Freitag Nachmittag auch noch die Sonne aus den Wolken über Berlin durchbricht, spaziere ich wirklich voller Euphorie über das beeindruckende und auch ein wenig gespenstische Tempelhof-Gelände. Viele Bekannte aus Ösiland sind auch da, teilweise von der Popkomm übriggeblieben oder wie meine Wenigkeit extra angereist.
Dass ausgerechnet diese ambitionierte Festival-Utopie in einem mittleren Desaster endet, hat schon meine Kollegin Susi Ondrušová in ihren Berlin-Reflexionen bemerkt.
Ich erspare mir hier Details zu der vor allem für weibliche Besucher untragbaren Toiletten-Situation, zum polizeilichen Abbruch des Programms in der ersten Nacht wegen überlangen Besucherschlangen vor diversen Hallen, zum umgeworfenen Schedule am Tag zwei. Let's talk about music, denn die gab es trotz all der Schwierigkeiten immer noch geballt.
Berlin Festival
Sie ist blutjung, fragil, einzelgängerisch, in der tiefsten Provinz aufgewachsen und widmet sich in ihrem elektronischen Kompositionen den ziemlich schmerzhaften Momenten des Seins.
Nein, ich rede jetzt nicht von Anja Plaschg, sondern von einer amerikanischen Kollegin der gefeierten Steirerin. Nika Roza Danilova alias Zola Jesus schwirrt schon länger durch diverse Hype-Blogs und sonntägliche FM4-Sümpfe. Beim Berlin Festival steht sie mit ihrem nocturnen Sound mitten am Nachmittag auf der Bühne.
Bei näherer Betrachtung stellen sich sämtliche Soap and Skin-Vergleiche als null und nichtig heraus. Zola Jesus hat sich nämlich, bei allen Flirts mit der Industrial-Geschichte, dem Song verschrieben, der klassischen Struktur und einem Pathos, wie man es von Siouxie Sioux, aber auch - Achtung - aus langsameren Italo-Disco-Balladen kennt. Mir Avantgarde-müdem Menschen, der sich gerade in einer gehobenen Schwulst-Phase befindet, kommt das natürlich sehr entgegen.
Schön auch, wie sich die introvertierte Nika Danilova im Laufe des Auftritts immer mehr öffnet, wie sie auf ganz eigene, sympathisch verschrobene Weise über die Bühne zuckelt und sogar ins Publikum läuft. Das hat Nachdruck und Charme gleichzeitig, dazu diese im guten Sinn aufgeblasene Überwältigungs-Musik. Darkwave-Romantik, die man gerade auch als Nicht-"Orkus"-Abonnent spitze finden kann, opernhafter Pop für uns ewige Kinder der Nacht.
Einige verpasste Bands später folgt dann einer der Hauptgründe für die Anreise: Maestro Murphy mit seiner besten Band der Welt, über die der geschätzte Philipp L'Heritier eigentlich schon alles Wichtige gesagt hat. So richtig in Ekstase versetzt mich meine langjährige Lieblingscombo diesmal in Berlin nicht, was aber eher an den akustischen Verhältnissen liegt.
Aber selbst wenn das diesmal eher ein LCD Soundproblemsystem ist und man auch die ganze Setlist schon vom FM4 Frequency kennt, springt der Funke spätestens bei "All My Friends" über. Die geniale Murphy-Gang hat etwas, was man im weiteren Festivalverlauf bei anderen Acts vergeblich suchen wird: Ich sage mal anachronistisch "Seele" dazu und bringe auch noch eine gewisse Sexiness ins Spiel.
Berlin Festival
Beides, Soul und Sex, sind kein Thema für Fever Ray, möchte man bei deren distanziertem Auftritt hinter siebzehn Schichten Trockeneis vermuten. Was natürlich gar nicht stimmt, denn offensichtlich arbeitet sich The Knife's Karin Dreijer Andersson bei ihrem Soloprojekt an den ewigen Themen ab, dem Blues und den Verlockungen und Frustrationen des Körpers.
Mich nervt bei der Show, die ich bereits identisch vom Grazer Spring-Festival kannte, nicht nur das enorme Gedränge in der überfüllten Halle. Ich weiß jetzt auch wirklich, warum ich nie einen enthusiastischen Zugang zum Fever Ray-Universum finden werde. Denn da kann die ganze Electro-Slow-Motion-Messe musikalisch noch so faszinierend sein. Irgendwie wirkt die hermetische Inszenierung verklemmt, blutleer, pseudokünstlerisch. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass hinter all den Nebelwänden gar kein obsessiver Angrund lauert. Sondern nur eine Art verkleidete Normalität.
Von diesem Geisterbahn-Gig führt dann kein Weg mehr zu anderen Bühnen, wo etwa die vielgelobten Caribou auftreten. Das Festival-Chaos ist in vollem Gange, ich erhasche noch ein paar Blicke auf den britischen DJ-Star Erol Alkan, bevor ich vor den Massen flüchte.
Was legt eine der zentralsten Figuren der Dancepunkverschmelzung der Nullerjahre so auf these days? Ibiza-Großraumdisco würde ich sagen. Ob dass der Ausweg aus den Sackgassen Minimal und Bratzelectro ist, darüber mag ich ermüdet eher nicht nachdenken in dieser Freitag Nacht.
Berlin Festival
Apropos Sackgasse. Am zweiten Berlin Festival-Tag, mit vorgezogenem und veränderten Programm und einer neuen Sperrstunde von 23 Uhr, kommt mir dieses Wort öfter in den Sinn. Grundsatzfragen der Existenz, zumindest was Popland betrifft, stellen sich. Woher kommen wir? Und vor allen: Wohin gehen wir?
Heiße Blog-Hypes wie Baby Monster oder Neon Indian können mir da keine Antworten liefern, weil erstere einfach gestrichen wurden und ich letztere schlicht verpasse. Zu Gunsten einer meiner absoluten Lieblingsbands, was sich als Fehler herausstellen sollte. Denn die prinzipiell total superen Soulwax, die zusammen mit LCD Soundsystem wohl hauptverantwortlich für das Grenzen-Niederreißen zwischen Arschwackeln und Kopfschütteln sind, enttäuschen leider auf höchstem Niveau.
Neue Impulse, Inspirationen oder zumindest einfach neue Songs hab ich mir von den Belgiern erwartet. Aber Soulwax böllern einfach eine Niteversions-Show in die Berliner Dämmerung, wie es sie in dieser Form seit 2006 zu sehen und fühlen gibt. Konstante Peaktime-Stimmung, Bratz bratz, die Menge kocht, jedes angedeute Ravebreak wird von überwiegend Männern mit hochreckten Fäusten begrüßt. It's not you, it's the E talking.
Von nun an geht’s bergab, wie es eine meine Lieblings-Berlinerinnen namens Hildegard Knef mal formulierte. Es heißt, sich nach Soulwax von weiteren Helden zu verabschieden, zumindest mal für eine bestimmte Zeit. Tricky, in den Neunzigern ein musikalisches Weltwunder und meine Lieblings-Ikone, leidet unter dem sogenannten Henry Rollins-Problem.
Soll heißen: Er glaubt, eine gewisse unerhörte Dringlichkeit ewig aufrechterhalten zu können, ohne sich dabei neue Strategien oder Ansätze zu überlegen. Dabei ist gerade Intensität etwas extrem Rares und Flüchtiges. Und wenn diese Intensität zur Routine verkommt, stellt sich schnell ein Nachgeschmack des Bemühten und Überholten ein, der Ekstase nach Schema F.
Berlin Festival
Womit sich übrigens auch der Comeback-Auftritt meiner früheren favorite Gabba-Rocker Atari Teenage Riot am Vorabend beschreiben lässt. Gerade einst so saukühle Pioniere müssen sich halt doppelt und dreifach anstrengen, um wieder den Ton anzugeben, aufgewärmte Rebellionen sind eine schwierige Sache.
Du liebe Güte, danke ich mir dann mittendrin in der Dixie-Kloschlange, wird die wunderbare Peaches meine sanft kulturpessimistische Verfassung jetzt zum Positiven ändern? Habe die Frau Nisker schon sehr lange nicht live gesehen, ein Heimspiel in Berlin scheint der richtige Platz. Aber Fehlanzeige, ich traue es mich gar nicht zu schreiben.
Nach einer gefühlt ewigen Wartezeit kommt Peaches als Disco-Roboter auf die Bühne, Laser zerschneiden die prallvolle Halle, es sieht bombastisch aus. Nur klingen tut es keineswegs so, fast schon wahnwitzig leise und drucklos pumpen Beats und Stimme aus der PA. Nach drei öden Stücken ist hastige Flucht aus dem Fadgasnebel angesagt, der Abend muss gerettet werden.
Diese Aufgabe übernehmen Hot Chip, die den wieder mal schwer packbaren klanglichen Bedingungen auf der Hauptbühne eine unglaubliche Lässigkeit entgegensetzen. Da ist sie, die gute alte Seele, ich hab sie vermisst. Es darf auch wieder getanzt und getänzelt werden, die Raverfaust bleibt unten. Die Zukunft hab ich bei den bestens gelaunten Pop-Briten auch nicht gesehen, aber zumindest die Gegenwart gespürt.
Es braucht große Over-the-Top-Gesten, die aber ganz unmartialisch menscheln müssen. Es braucht Entertainment als künstlerische Mission und nicht als bloße Bedienung von Schlüsselreizen. Es braucht neue Vokabel, damit bewährte Sprachen wieder aufregend werden.
Und, ja, das Berlin Festival 2011 braucht neben einem Übermaß an Ambition auch eine funktionierende Organisation. Mal schauen, was da noch geht.
Berlin Festival