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Pia Reiser

Filmflimmern

7. 8. 2010 - 06:02

Wirre Herzen

Ein Arschtritt für den Realismus und eine Erinnerung an die Möglichkeiten des Kinos. Alain Resnais' "Les Herbes Folles" als FM4 Kinopremiere.

Es gibt zwei Dinge, die - würde es nach mir gehen - wohl nie auf der Leinwand zu sehen wären: Zahnärzte, die in Zähnen bohren und Mathieu Amalric mit Baseball-Kappe. Chapeau, Monsieur Resnais, in ihrem Film "Les Herbes Folles" gibts gleich beides. Aber noch so viel mehr: Wie die titelgebenden verrückten Gräser, die man eingangs und immer wieder zwischendrin aus Asfaltritzen wachsen sieht, wächst in Resnais' Film auch an unvermuteten Stellen eine Amour fou, wuchern spontane Mordgelüste, Irritationen und ein oft nicht eindeutig benennbares Verlangen.

"Les Herbes Folles" beruht auf dem Roman "L'incident" von Christian Gailly, der auf Deutsch noch nicht erschienen ist, das heißt für den deutschen Filmverleihtitel hat man wieder die gute alte Variante gewählt und einen Affen mit verbundenen Augen in einem Zimmer, vollgepickt mit aufgeschriebenen Worten, mit Dartpfeilen werfen lassen. Das Ergebnis: "Vorsicht Sehnsucht". Bad, bad monkey.

Entdecke die Möglichkeiten

Als George (André Dussollier) im Parkhaus eine Geldtasche neben seinem Auto findet, findet er Gefallen am Foto der Besitzerin, das er im Pilotenschein findet. Prompt wird Zahnärztin Marguerite Muir (Sabine Azéma), die Brieftascheninhaberin und Opfer eines Diebstahls, in seinem Kopf zu einer Art Amelia Earhart - mit Halstuch und Pilotenbrille. Die Frau mit der feuerroten Haarpracht fasziniert ihn, ohne, dass er ihr jemals begegnet ist.

In kleinen comicartigen Blasen sieht George mehrere Varianten davon, wie das Gespräch zwischen ihm und Marguerite aussehen könnte. Und da ahnt man schon, dass der Konjunktiv, die Möglichkeit eine große Rolle einberaumt wird. Als sich Marguerite tatsächlich bei Georges meldet, um sich für die Abgabe ihrer Brieftasche bei der Polizei zu bedanken, da wird aus Georges plötzlich ein französischer Larry David, ein Grantscherben, der unzufrieden damit ist, dass sie glaubt, mit einem einfachen "Danke" am Telefon sei die Sache erledigt.

Szenenbild aus dem Film "Les Herbes Folles", Mann am Telefon

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Die Ausgangslage - ein Zufall bringt zwei Menschen zusammen, die anhand dieser Begegnung die leeren Stellen in ihrem Leben entdecken - könnte leicht auch ein weiterer Rührteig für einen der zahlreichen französischen Liebeskomödien-Striezel sein, die dann so gerne als "leichtfüßig" bezeichnet werden, aber meistens von bleifüßiger Langeweile und Austauschbarkeit sind. (Dass Schabolonenartigkeit aber meist nur dem amerikanischen Kino, selten aber französischen Leinwandgewächsen vorgeworfen wird, kommt wohl aus der nicht abzuschüttelnden Auffassung, dass das amerikanische Kino als ein Industriezweig wahrgneommen wird, das französische (oder europäische) Kino hingegen immer noch als der Kunst verpflichtet gilt, dem man sich respektvoll anzunähern hat.)

Szenenbild aus dem Film "Les Herbes Folles", eine rothaarige Frau auf einem Sofa sitzend

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"Les Herbes Folles" aber ist keine weitere Blaupause für eine Romanze, in der das "Oh la la", ebenso wie das "Savoir Vivre" und das "Carpe Diem" durchdekliniert werden, bis aus dem Off ein Chanson einherschlenzt und der Abspann beginnt. Auf solch sicherem Genreboden begibt man sich generell nicht, wenn man den Planeten "Resnais" betritt. Die Verunsicherung, das Abweichen vom Gewohnten und der Arschtritt in Richtung Realismus steckt im Detail, lauert hinter der Hausmauer, um einen aus der Bahn zu werfen, gerade, wenn man dachte, man wüsste, worauf man sich hier eingelassen hat. Wenn Marguerite ihre Tasche weggerissen wird, so schwebt diese für ein paar Sekunden durch die Lüfte. Die Gebrüder Schwerkraft und Logik sind außer Kraft gesetzt, für einen Moment setzt tatsächlich sowas wie Zauber ein. Diskontinuität, zerspragelte, sich wiederholende Dialogfetzen, eine Kamera, die sich immer wieder Mal mitten in Szenen davon macht, um die Szenerie fast aus der Vogelperspektive zu zeigen, erinnern an die Möglichkeiten des Kinos und zwingen die Sehgewohnheiten, die es sich gerade so gemütlich im Schaukelstuhl gemacht hatten, zum Aufstehen. Zum Neupositionieren.

Szenenbild aus dem Film "Les Herbes Folles", ein Polizist

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Le flic, c'est chic. Da hat er auch die Baseball-Mütze schon abgenommen.

Die Filme, die als Gedächtnishilfensprungbrett in Klammer hinter Alain Resnais Namen stehen, werden wohl immer "Letztes Jahr in Marienbad" und "Hiroshima Mon Amour" bleiben - obwohl für den inzwischen 87-jährigen Resnais nach deren Fertigstellung noch 50 Jahre als Filmemacher folgen. Man nennt ihn gerne im Atemzug mit der Nouvelle Vague, um ihn gleich davon wieder wegzurücken. Wer sich der Genrezuschreibung verschreibt, wer mit dem Zerreißen von narrativen Strukturen experimentiert, für den gibts dann oft den schnöden Kunstkino-Stempel und so überraschte Resnais dann spätestens 1997 mit "On connait la chanson" alle, weil das plötzlich so leicht und - Mon Dieu - gar ein Musical war. Und gerade weil Resnais ein Filmemacher ist, der von der Erinnerung ganz und gar besessen ist, ist es nur fair, wenn wir uns auch an ein bisschen mehr erinnern als "Marienbad" und "Hiroshima". Mit "Les Herbes Folles" macht er einem das verflixt leicht. Der Film wird sogar in der Erinnerung noch ein bisschen besser.

Alain Resnais in Cannes

Cannes

2009 gab es in Cannes den Spezialpreis der Jury für Alain Resnais

Sound and Vision

Die Musik von Mark Snow ("Akte-X"!) makiert stellenweise düsteren Thriller, während Beleuchtung und Farben in Richtung Comicwelten driften. Eine "Cinema"-Leuchtschrift und ein verlangsamter, rückwärtsgehender Georges winken in Richtung Lynch-Universum und irgendwann, gerade als man wieder mal glaubt, man sei Resnais auf die erzählerischen Schliche gekommen, täterätätät die 20th Century Fox Fanfare einher und gaukelt ein Filmende vor.

Was sich zwischen Marguerite und Georges entspinnt, wie sie sich anziehen, um sich gleich darauf wieder abstoßend zu finden ist eine Amour fou zum Quadrat, ein Ringelspiel an Irrationalitäten und Einbildungen, Möglichkeiten und Spekulationen. Der Schluss wird wahrscheinlich für mehr Kopfgekratze sorgen als der gesamte Limbo-Dance aus Nolans fantastischem "Inception".

Und um die Frage des imdb-Users michaelflately zu beantworten: "Is it Me or James Bond Villain Guy is in Every French Movie?": Die Pia Reiser Foundation für noch mehr Mathieu Amalric im französischen Kino (kurz: PRFFNMMAIFK) tut, was sie kann.

44x2 Tickets zu gewinnen

Filmplakat zu "Les Herbes Folles"

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FM4 Kinopremiere "Les Herbes Folles" (OmU)
am 11. August 2010
20.00 Uhr im Cine Center (Fleischmarkt 6, 1010 Wien)

Wer an der Kartenverlosung teilnehmen will, muss nur folgende Frage richtig beantworten: In welchem Film von Alain Resnais spielt Yves Montand einen spanischen Kommunisten?

Die Tickets wurden inzwischen verlost, die GewinnerInnen verständigt. Die richtige Antwort war: "Der Krieg ist vorbei".