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Michael Schmid

produziert Texte und Radiobeiträge für Connected, Homebase & Im Sumpf

12. 7. 2010 - 15:04

Das Ende der Plattenkritik?

Die Zusammenfassung einer längeren Diskussion - als Linkliste

Losgetreten wurde alles wieder mal bei Spex. Im Jänner 2010 schafft es das Magazin für Popkultur erneut, seinen diskursiven Herrschaftsanspruch in Sachen Sprechen über Musik zu bestätigen. Was ist/was kann/was soll Plattenkritik heute, im Zeitalter des Sharings? Die Antwort, die Spex auf diese Frage gibt, löst eine Kettenreaktion an Kommentaren aus, die bis jetzt nicht zum Stillstand gekommen ist.

kaputte Schallplatte im Dreck

currybet unter Creative Commons Lizenz

Bild: currybet unter Creative Commons Lizenz

Weil das Internet Meinung und Geschmack viel schneller transportiert als ein zweimonatlich erscheinendes Print-Magazin, und die Kategorie "Album" gerade im Worldwideweb zerbröselt wird, schafft Spex-Chefredakteur Max Dax die Albumrezensionen kurzerhand ab und setzt statt dessen auf ein so genanntes Pop Briefing. Eine Art schriftliches Round-Table-Gespräch, bei dem sich die Aufgabe des Deutens und Einordnens gleich mehrere Expert_innen teilen. Der Autor wird dabei von seiner Aufgabe entlastet, "die alleingültige Meinung zu einer Veröffentlichung zu liefern", so Dax. Zumindest werbetechnisch gelingt die Aktion, denn das Feuilleton reagiert prompt.

Qualifizierte Langsamkeit

Dass das nicht im Ernst das letzte Wort der Popmusikkritik sein kann, ist vor allem für Diedrich Diederichsen klar, denn als ehemaliger Chefredakteur und Mitherausgeber von Spex hatte gerade er die Albumbesprechung als Format starkgemacht. Diederichsen wünscht sich insgesamt wieder mehr kritische Stimmen der Musik gegenüber und endlich wieder einmal eine "schroffe Ablehnung des ganzen Scheiß". Er sieht zwei Möglichkeiten, auf den Zeitdruck der Netzkommunikation zu reagieren: Entweder man beteilige sich an der ebenso chaotischen wie ihrerseits produktiven Rezeptionsaktivität im Internet, oder man beobachte sie von einem externen Punkt aus und beschreibe ihre Ergebnisse. "Die Verbindung zum Leben, zur Rezensentensubjektivität als Testarena der Rezeption stellt nicht mehr Schnelligkeit her, sondern eine qualifizierte Langsamkeit, die antikapitalistische Tiefe eines ungehetzten Lebens im Dienste ästhetischer Reflexion. Neu ist nicht zwingend, was neu ist, sondern etwa auch das, was neuerdings für mich erledigt ist." Und der Kulturindustrie müsse man klarmachen, "dass dies die einzige Möglichkeit ist, ihre aktuelle Vermarktungsutopie, den sogenannten long tail [...] in die Wirklichkeit umzusetzen." In seiner Kritik an der Kritik macht Diederichsen also den an Veröffentlichungstermine und Anzeigen gebundenen Musikjournalismus hauptverantwortlich für die Misere.

Akademikergewichse & literarisches Quartett

Für den Erfolgs-Blogger Johnny Häusler waren Spex Autor_innen immer schon frustrierte Germanistik-Student_innen, "die nicht tanzen konnten". Das "Akademikergewichse" der Rezension werde nun endlich abgelöst von der "Übersicht" des Musik-Blogs "und so dürfte die Spex-Entscheidung bei der digitalen Gemeinde allenfalls ein gelangweiltes wayne? auslösen: Wen interessiert’s?", fragt der Spreeblick-Blogger.

In seiner Reaktion erklärt uns Max Dax, dass es eigentlich um ganz was anderes geht bei den "Pop Briefings" der Spex. "Sprachliche Eitelkeiten" und "bloße Geschmacksäußerungen" sollen von "Kontextualisierung und Diskurs" abgelöst werden. Die Plattenkritik in Spex ähnle heute dem Format des "literarischen Quartetts", das sein "gesammeltes diskursives Wissen über Musik und deren Begleitumstände auf den Tisch" legt.

Klassenkampf & geschmäcklerischer Schmu

Rein ökonomische Gründe, wie etwa das Einsparen von Autorenhonoraren, sieht Wolfgang Frömberg als Motor für die "Pop Briefings". Die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen des "Medienproletariats" bei Spex hat er selbst als Redakteur dort erfahren. Es klingt nach Klassenkampf, wenn er die Kritik dazu auffordert sich zu formieren, "statt nur zu formulieren". Dann nämlich könne man "wirklich vom Ende der Popkritik, wie wir sie kannten, reden".

Jörg Sundermeier taucht tief in den Begriff der Kritik ein, den er deutlich von "Konsumentenberatung" abgrenzt. "Wie stets im Kapitalismus erscheint das, was für den Warenfluss notwendig ist, denen, die es vertreten müssen, wie ein Naturgesetz. So kommt es, dass Popkritik zum geschmäcklerischen Schmu verkommen ist. [...] Mit der Orientierung an Veröffentlichungsterminen hat sich professionelle Popkritik freiwillig zum Sklaven der Musikindustrie gemacht. Und sie hat über Jahre hinweg ihre Leser zum Konsumverhalten erzogen. [...] Konsumunabhängige Popkritik ist unerwünscht. Spex hat eine Konsequenz daraus gezogen."

Underground ohne Eier

Die Repolitisierung des Konzepts "Underground" könnte für Hannah Pilarczyk die entscheidende Aufgabe einer Musikkritik werden, die auch sich selbst neu begründen will. Denn "wenn sich Mainstream und Kommerz nicht mehr zur Abgrenzung eignen, müssen neue Kategorien innerhalb der Nische her." Sie bezieht sich dabei auf Simon Reynolds, demnach 'Underground' wirklich mehr bedeuten sollte als 'etwas mögen, das nicht viele Leute kennen'. "Welche Produktionsbedingungen von Musik, welche Konzepte von Künstlertum sind heute emanzipativ? Erst wenn Popkritik auf solche Fragen keine interessanten Debatten mehr folgen lassen kann, hat sie sich wirklich erledigt", so Pilarczyk.

Für Nadja Geer krankt es an der Unentschlossenheit der Popkritik. "Sie kann sich nicht entscheiden, ob der Kritiker im Mittelpunkt des Interesses steht, oder die Musik." Das Schreiben über Musik eiere zur Zeit zwischen kritischer Theorie (Adorno, Cultural Studies) und Systemtheorie herum. "Also zwischen der Idee, Kunst - sprich Popmusik - als politisch und erkenntnisfördernd zu begreifen und dem, sich selbst zu thematisieren und darüber nachzudenken, wo man denn als Kritiker bzw. prekäres Künstlersubjekt steht. Herumeiern passt zum Problem: Die Popkritik hat momentan keine Eier."

Geschmack & Magazinsterben

Und wieder Max Dax: Zu eitel und zu wenig analytisch ist ihm das Gros der Texte. Und er stellt die Frage, warum überhaupt noch Popkritik, "wenn man sich 'selbst ein Urteil bilden' kann, indem man die Musik auf Last-FM, auf YouTube oder als Snippet bei Amazon ohne Umwege hören - oder gleich illegal runterladen kann?" Die Lösung sucht er in "der Vermittlung von Erkenntnis und dem Angebot von Verknüpfungen". Das Internet kann das zwar auch, aber nur algorithmisch, Kritiker_innen hingegen filtern und editieren weitaus komplexer. Und er schreibt, dass seine Leser_innen mit der Auflösung des Über-Autors weit weniger Probleme zu haben scheinen, als die Autoren der ganzen Debatte.

Die Situation von Printmagazinen und Zeitungen ist in Amerika noch viel schlimmer, berichtet Geeta Dayal. Die Musikkritik habe sich dort fast vollständig ins Netz verlagert und Pitchfork ist längst wichtiger geworden als das Spin-Magazin. Die Magazine sterben. Einige der begabtesten Musikkritiker, die sie kenne, seien jetzt Anwalt oder Manager geworden.

Epoche: Popkultur

Ein ähnlich schreckliches Bild zeichnet Sonja Eismann auf Seiten der Rezipient_innen. Sie unterrichtet "Popkultur" an Universitäten, wo die Studierenden ungefähr ähnlich "enthusiasmiert" in den Vorlesungen sitzen wie sie selbst "damals in der Vorlesung zur englischen Morphologie. [...] Neulich wurde ich in einem Proseminar zum Thema 'Third Wave Feminism' von einer Studentin gefragt, was Popkultur denn eigentlich genau sei - vielleicht eine Epoche?" Pop sei mittlerweile das Allgemeine, so ihre Diagnose, "und nicht mehr in dem Sinne das Besondere, als dass er durch Gatekeeper diskursfähig gemacht oder erst erklärt werden müsste". Eigentlich gäbe es keinen dringlichen Bedarf mehr für Pop, trotzdem bringe aber gerade die Omnipräsenz von Popkultur die Chance für neue radikalere Lesarten. "Ich freue mich schon auf die neue Generation, die uns mit bis dato undenkbaren Debattierformen aus dem Dornröschenschlaf reißt", so Eismann.

Bescheidwisser & Vorkoster

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Auch die Wissenschaft kümmert sich mittlerweile um die "Pop Briefings". Ruedi Widmer erzählt in der NZZ von den Forschungsergebnissen im Journalistik Journal der Universität Dortmund. Dort sieht man im "Pop-Briefing" der Spex eine kritische Leistung. "Nämlich jene, die Kultur von innen her 'in Bewegung zu halten' und sie mit sprachlichen Mitteln 'zu dynamisieren'. Verabschiedet wird der Kulturjournalist mit dem Habitus des distanzierten 'Bescheidwissers' und Vorkosters." Stattdessen machen die Autor_innen "die Not des schwindenden Denkvorsprungs zur Tugend" und operieren "strikt aus der Gegenwart heraus."

Die Serie "Zur Zukunft der Musikkritik" in der TAZ geht übrigens weiter

Man muss sich also wieder einmal bedanken bei Spex, denn ohne den groß zelebrierten Vorstoß der "Pop Briefings" wäre die Diskussion um den Zustand der Popkritik in dieser Art nicht oder zumindest noch nicht geführt worden.

[Update]

Simon Welebil hat noch einen Text von Martin Fritz für uns. Zwar nicht speziell zur Musikkritik, aber rund um die wichtige Frage: Wie (Pop-)Kultur im Web2.0 organisiert wird. Danke dafür.