Erstellt am: 19. 6. 2010 - 11:51 Uhr
Das Schreiben in der Struktur
Erst kürzlich musste ich an José Saramago denken. Im Bundespräsidentenwahlkampf, als viele ÖVP-Politiker ihre Liebe fürs Weißwählen entdeckt hatten. Saramagos Buch "Die Stadt der Sehenden" ist in diesen Kreisen wohl unbekannt. Ansonsten hätte man sich den Aufruf zur kollektiven Verweigerung nochmals überlegt. Denn das Experiment "es sind Wahlen und alle wählen weiß" nimmt im Buch des portugiesischen Schriftstellers, der vorgestern im Alter von 87 Jahren verstarb, kein gutes Ende. Die Politik zeigt wenig Verständnis für das "undemokratische" Verhalten der Wähler, lässt die Stadt belagern und die vermeintlichen Rädelsführer erschießen.
"Die Stadt der Sehenden" ist in mehrerer Hinsicht ein typisches Werk des Nobelpreisträgers Saramago. Für den bekennenden Kommunisten leben Menschen in Strukturen, die ihnen selbst nicht immer bewusst sind, die ihre Handlungsspielräume aber klar abstecken. In vielen seiner Bücher bleiben die Protagonisten eher Spielball dieser Strukturen, sind also im engen Sinn keine Protagonisten. In einer Zeit, in der die individuelle Freiheit zum gesellschaftlichen Leitmotiv avanciert ist, lüftet Saramago in seinen Romanen den Schleier, hinter dem die Geronnenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse zutage tritt. Diese gesellschaftlichen Strukturen – der Kapitalismus oder das (schein-)demokratische politische System – bilden die Folie, auf denen Saramago seine Geschichten spinnt: Was passiert, wenn der Töpfer Cipriano Algor im Roman "Das Zentrum" seine Waren im neuen Einkaufszentrum, "eine in ihren gigantischen Ausmaßen und Möglichkeiten einschüchternde wie Wünsche weckende Kathedrale des Konsums", nicht mehr absetzen kann? Oder was passiert, wenn Menschen sich dem demokratischen Spiel verweigern, wie in der "Stadt der Sehenden"?
Kinowelt
Struktur und Stil
José Saramagos strukturalistischer Zugang spiegelt sich auch in seinem Schreibstil wieder. Seiner Bücher sind Parabeln, die Beschreibung der Orte meist stark reduziert, ja minimalistisch. Sie stellen die kargen Bühnen dar, auf denen die gesellschaftlichen Verhältnisse umso klarer erkennbar werden. Auch seitenweise Charakterbeschreibungen wird man bei Saramago vergeblich suchen, übernehmen die Romanfiguren doch nur gesellschaftliche Rollen, die jeder x-beliebige mit seinem Körper und seiner Biographie füllen könnte. Nur konsequent, dass viele Protagonisten überhaupt anonym und gesichtslos bleiben. Und so, wie Saramago seine Figuren Marionetten gleich durch den Roman führt, leitet er den Leser als allwissender, oftmals belehrender Erzähler. Hier eine kurze Passage aus "Der Stadt der Sehenden":
"Drei Tage nach dem Attentat begaben sich die Menschen in aller Frühe auf die Straße. Schweigend und ernst gingen sie einher, viele von ihnen trugen weiße Fahnen, alle einen weißen Trauerflor am linken Arm. ... Um elf Uhr war der Platz bereits voller Menschen , doch hörte man nichts außer dem ungeheuren Atem der Menge, dem dumpfen Zischen der Luft, die in die Lungen ein- und von dort wieder ausströmte, einatmen, ausatmen, und dabei das Blut dieser Lebenden mit Sauerstoff versorgte, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, bis plötzlich, wir wollen den Satz nicht zu Ende führen, denn diesen Augenblick werden die hier Versammelten, die Überlebenden, erst noch erfahren. ... Die Gräber waren noch offen, als jemand, ohne Zweifel in bester Absicht, vortrat, um eine Grabrede zu halten, doch wurde dies sofort von den Umstehenden vereitelt, Keine Rede, hier ist jeder mit seinem Kummer alleine, und vereint sind wir alle im selben Schmerz. Und Recht hatte dieser Mensch, der sich so klar äußerte."
Der Drang zu schreiben
José Saramago begann seine schriftstellerische Laufbahn relativ spät, 1980 mit knapp 60 Jahren. Unter der faschistischen Diktatur Salazars war Saramago zuvor als Journalist tätig gewesen und der verbotenen Kommunistischen Partei beigetreten. Nachdem sich nach der Nelkenrevolution 1974 in Portugal jedoch nicht die sozialistischen, sondern die bürgerlichen Kräfte durchsetzten, und Saramago seinen Job als stellvertretender Leiter der Tageszeitung Diário de Noticias verlor, wandte er sich der Literatur zu. Nach Skandalen um sein Buch "Das Evangelium nach Jesus Christus" kehrte er Portugal 1991 endgültig den Rücken zu und emigrierte nach Spanien. Vielleicht fiel die Wahl für das Exil in Lanzarote ja bewusst – die Vulkaninsel verkörpert in ihrer Kargheit jedenfalls in perfekter Form die Schauplätze, auf denen Saramago seine Geschichten inszeniert hat.
- Nachruf auf Ö1
Auf Lanzarote trieb Saramago bis zuletzt ein ungeheurer Schreib- und Veröffentlichungsdrang. Man erzählt, dass, während José Saramago in einem Zimmer an einem Roman auf Portugiesisch arbeitete, seine dritte Ehefrau, die spanische Journalistin Pilar del Rio, im Nebenzimmer die fertigen Teile desselben bereits ins Spanische übersetzte. Diese Arbeitsteilung hat mit dem Tod des Schriftstellers nun ihr trauriges Ende gefunden.