Erstellt am: 29. 5. 2010 - 12:05 Uhr
Der Kopf ist rund. Der Ball auch.
Sinnloser als Fußball ist nur noch eins: Nachdenken über Fußball.
(Martin Walser)
- Begleitliteratur zur Fußball WM. Teil 1: Allgemeines
- Begleitliteratur zur Fußball WM.Teil 2: Afrika
Das nächste Fußball-Großereignis steht vor der Tür, Zeit, wieder einmal eine kleine Rundschau zum Thema Fußball-Literatur zu machen. Weil seit dem letzten Überblick schon eine gehörige Zeit vergangen ist, stelle ich die Bücher aus den letzten zwei Jahren vor, die mich am meisten beeindruckt haben. Hier und heute geht's um Fachliteratur allgemeiner Art, der nächste Teil beschäftigt sich mit dem afrikanischen Fußball.
Christoph Biermann - Die Fußball-Matrix
Martin Steffen
Christoph Biermann arbeitet seit 2006 als Sportkorrespondent für Der Spiegel und für Spiegel Online, zuvor war er Fußball-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Außerdem schrieb und schreibt er u.a. für die taz und die 11 Freunde und ist Fußballexperte beim Radiosender 1Live. Christoph Biermann lebt in Köln und ist Fan des VfL Bochum.
Das zurecht hoch gelobte Werk vom ebenso zurecht hoch geschätzten deutschen Taktik- und Analysefuchs Christoph Biermann. War sein Buch Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung wechseln kann noch ein Überblick über die Entwicklung der Fußball-Taktik von den Anfängen bis heute, so beschäftigt sich Die Fußball-Matrix mit der dort im letzten Kapitel aufgestellten These von der Digitalisierung des Fußballs.
Biermann erzählt davon, wie Fußball in den letzten Jahren verwissenschaftlicht wurde, wie die Methoden der modernen Sportanalyse Einzug gehalten haben, und welche Auswirkungen das auf das Spiel hat. Er beschreibt die Analysemethoden von Firmen wie Mastercoach oder Amisto, die Fußballspiele mit Wärmebildkameras erfassen und auf bis zu 90 Seiten in genauesten statistischen Analysen aufbereiten; er beschreibt, wie modernes Scouting und Spielerdatenbanken funktionieren; er erzählt, wie Vereine und Trainer damit arbeiten, und wie sie aus einzelnen Spielern und aus der gesamten Mannschaft mit Hilfe dieser Daten mehr herausholen können.
Biermann erzählt aber auch, wie das digitale Denken einer Generation von Fußballern, die mit Internet und Playstation aufgewachsen ist, das Spiel prägt. In einem Interview mit Lionel Messi erklärt dieser zum Beispiel, dass er auf der Playstation gern sich selber spielt, und dass er dort Tricks ausprobiert, die er auf dem Platz (noch) nicht zustande bringt.
Und Biermann beschreibt, wie ein Fußballverein (oder ein Nationalteam) mit strategischem Denken und klarer Analyse seiner Situation auch aus beschränkten Mitteln das Maximum herausholen – und die Großen ärgern kann. Professionelles Arbeiten und eine schlüssige Strategie natürlich vorausgesetzt. Für österreichische Offizielle also eine Fundgrube an Anregungen und Ideen.
Declan Hill: Sichere Siege
privat
Declan Hill hat in Oxford über Fußball und organisiertes Verbrechen promoviert. Bereits vorher hat er als investigativer Journalist für Fernsehen und Zeitungen in Kanada und Großbritannien gearbeitet, spezialisiert auf Korruption und internationale Politik. Er ist für seine Arbeiten mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem von amnesty international für Best Human Rights Documentary.
Bereits vor knapp zwei Jahren hat das Buch Sichere Siege – Fußball und organisiertes Verbrechen oder wie Spiele manipuliert werden des Kanadiers Declan Hill (übersetzt von Marion Balkenhol) großes Aufsehen erregt. Vor allem deshalb, weil Hill darin die These aufstellt, Wettmanipulation sei im Fußball viel weiter verbreitet als bisher angenommen. Hill beschreibt, wie Fußballspiele weltweit manipuliert werden, und er macht das sehr anschaulich und glaubwürdig.
Er berichtet, wie die Manipulation eines Fußballspiels funktioniert, wie bereits vor Jahrzehnten Spiele verschoben oder verkauft wurden, er recherchiert bei der asiatischen Wettmafia und beschreibt, wie diese ihre Fühler nach Europa ausstreckt. Er erzählt, wie ganze Mannschaften in die Fänge der Wettbetrüger geraten oder nur zu dem Zweck unterhalten werden, Spiele zu manipulieren.
Und vor allem beschreibt er, welche Mechanismen und Umstände den Fußball in die Nähe des Geschäftszweiges "Wettmanipulation" rücken, welche Entwicklungen dazu geführt haben, dass der Fußball angreifbar wurde, und wie er sich gegen Manipulationen wehren könnte. Ein im spannenden Reportagestil geschriebenes Buch, das so manche Hintergründe aufdeckt, die man als Fan eigentlich gar nicht so genau wissen will – als politisch interessierter Mensch aber umso mehr.
Kiepenheuer & Witsch
Simon Kuper: Football Against The Enemy
Oder: Wie ich lernte, Deutschland zu lieben. Tja, starker Tobak die Überschrift, vor allem für gelernte (Fußball)Österreicher. Aber Simon Kuper ist Holländer, also mit einem ebenso ausgeprägten Deutschenhassergen ausgestattet. Keine Angst, Football Against The Enemy ist keine Bekehrungsfibel à la Endlich Nichtraucher, es ist vielmehr eine im englischen Original bereits 1994 erschienene Aufsatzsammlung, die seit letztem Jahr endlich auch auf Deutsch vorliegt (übersetzt von Markus Montz), und die so etwas ist wie die Mutter aller Welterklärung durch Fußball-Literatur.
Simon Kuper ist als Sohn südafrikanischer Eltern in Uganda geboren, in den Niederlanden aufgewachsen und lebt und arbeitet in Großbritannien. Er schreibt unter anderem für die Financial Times.
Simon Kuper beginnt seine fußballerische Weltreise mit der holländisch-deutschen Rivalität, und damit beendet er sie auch (der Untertitel verrät die emotionale Wandlung), dazwischen aber beschreibt er über und mit dem Fußball Gesellschaft, Politik und historische Entwicklungen in abgelegenen und weniger abgelegenen Weltgegenden, so wie es Jahre nach ihm Menschen wie Franklin Foer oder Alex Bellos getan haben. Ebenso wie diese sehr empfehlenswert!
Marion Müller: Fußball als Paradoxon der Moderne
Warum stört sich im Fußball eigentlich niemand daran, wenn Franz Beckenbauer über die "angeborene Geschmeidigkeit der Afrikaner" sinniert? Warum finden wir die Existenz von Ausländerregelungen in der Bundesliga so selbstverständlich? Und weshalb ist die Vorstellung so abwegig, das Frauen und Männer gemeinsam Fußball spielen?
Gute und interessante Fragestellungen, aber, ganz ehrlich, die Dissertation der Bielefelder Soziologin Marion Müller (im Untertitel Zur Bedeutung ethnischer, nationaler und geschlechtlicher Differenzen im Profifußball) habe ich bis jetzt nur durchblättern können.
Marion Müller / Uni Bielefeld
Dr. Marion Müller ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Insofern Bielefeld überhaupt existiert. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich möchte sie dennoch erwähnen, erstens, weil ihr Blickwinkel das Gegenstück zu Christoph Biermanns Betrachtung der Wissenschaft vom Fußball ist: nämlich der (gesellschafts)wissenschaftliche Blick auf den Fußball – und den eröffnet sie, zweitens (das lässt schon das Durchblättern erahnen), mit ebenso viel Liebe zum Thema wie wissenschaflicher Ernsthaftigkeit – und Humor.
Anhand von drei deutschen Fußballvereinen beschreibt Marion Müller, welche Rolle Stereotype und Differenzen im Biotop Profifußball spielen. Objekt der Betrachtung sind der 1. Fußball- und Sportverein Mainz 05 e.V., der Deutsche Sportclub Arminia Bielefeld und der Verein für Leibeserziehung Wolfsburg – ja, die heißen wirklich so, und Marion Müller schreibt das auch so hin, im Kapitel, das die Überschrift Auf'm Platz trägt. Allein dafür gebührt ihr Lob, und man merkt schon: wissenschaftliche Distanz und ethnologische Herangehensweise kann durchaus für Erfrischung sorgen – vor allem, wenn man damit das so gern um sich selbst kreisende Universum Fußball und seine Rituale durchleuchtet.
VS Verlag, Verlag Die Werkstatt