Erstellt am: 26. 5. 2010 - 20:37 Uhr
Der LOST-Masterplan
Reif für die Insel: Christian Lehner hat spekuliert, wies ausgehen könnte
Lost my Religion: Christian Fuchs' Abgesang auf ein Fernsehphänomen
Der Lost - Masterplan: Marc Carnal über das fahle Finale einer faszinierenden Erzählung. Spoiler-Alarmstufe gelb!
April 2009: Ein garstiger Katarrh sucht mich heim. Rotz und Galle speiend sieche ich in meinen Sitzmöbeln dahin und weiß mit meiner Zeit recht wenig anzufangen. Zu anspruchsvoller geistiger oder physischer Beschäftigung sehe ich mich außerstande, also begehre ich zeitintensive Berieselung. Da es immer mehr Freunde und Feinde gibt, die versuchen, mich von dem Insel-Abenteuer LOST zu überzeugen, nutze ich die Tage des Dahinsiechens und ziehe mir den Pilotfilm rein.
Eine Nahaufnahme von Jacks Gesicht. Sein rechtes Auge öffnet sich...
Mai 2010: Ich bin schon wieder krank. Wie passend, denke ich und ernenne den Flachbildschirm für zwei Stunden zum Altar. Das LOST-Finale! Die Antwort, das Ende der Reise, der große Showdown, jajajajaja! Jeder Wimpernschlag erhöht das Risiko, etwas zu übersehen. Jedes Wort könnte der Schlüssel sein, hinter jedem Baum der große Mindfuck lauern. Und dann:
Eine Kirche. Gleißendes Licht.
Eine Nahaufnahme von Jacks Gesicht. Sein rechtes Auge schließt sich.
Das war’s also.
Ein enttäuschendes Ende. Kollege Fuchs hat viele meiner Eindrücke auf den Punkt gebracht. Dennoch: Großes Kino, alles in allem.
In den letzen dreizehn Monaten habe ich nicht nur sämtliche Episoden der Eiland-Gaudi teils mehrfach gesehen, sondern wurde auch eifriger Leser von lostpedia, sah und las unzählige relevante Interviews, stellte für mich oder im Kreise Mitsüchtiger gewagte Theorien auf und spekulierte bei der Sneak Peak - Heavy Rotation, mit welchen erschreckenden Handlungshaken, sterbenden Protagonisten oder neuen Mysterien mich die kommende Folge wieder fesseln könnte.
ABC
Das alles immer in Hinblick auf die eine große Lösung des großen Rätsels. Mitte der sechsten Staffel wurde langsam klar, dass es auf die meisten offenen Fragen und für viele Mysterien nur vage oder gar keine Antworten geben würde. Schon zu diesem Zeitpunkt hätte ich eigentlich beginnen können mit der
Bauanleitung für LOST
Man stelle eine rekordverdächtige Fülle an Hauptcharakteren, die zusammen einen Flugzeugabsturz auf einer Insel überlebt haben, mittels ausführlicher Rückblenden vor und führe gleichzeitig eine Vielzahl an Ungereimtheiten und kleineren Rätseln ein. Sind die Protagonisten erst einmal etabliert, lasse man ein paar sterben, zum Beispiel von jenem Monster töten, das bereits im Pilotfilm vorgestellt wird. Da der Zuseher von Monstern nicht allzu lange erregt wird, deute man die Spezialitäten der Insel anhand von gehenden Lahmen und munteren Toten an.
Das Personal decke grundsätzlich eine Fülle von Minderheiten und Nationalitäten ab, nicht nur für die gute alte Identifikation, sondern auch, um mal eine halbe Stunde lang Koreanisch untertiteln zu können (Emmy!) .
Zeitgleich muss permanent der Eindruck vermittelt werden, die Gestrandeten wären nicht alleine auf der Insel. Zu diesem Zweck lasse man sie alte Notrufsignale empfangen, Luken im Dschungelboden entdecken und immer wieder auf gewisse Zahlen treffen.
Wird der Versuch, mit einem Floß nach Hause zu schippern, nach einigen Folgen zu witzlos, etabliere man eine scheinbar übermächtige, namenlose Gruppe von feindselig gestimmten Unbekannten, einen Irren, der regelmäßig eine Taste drückt und irgendwann auch noch die Dharma Initiative oder einen brutalen Industriellen, damit es neben Gruppeninternen Konflikten, den ominösen Anderen und dem üblen Rauch, als der sich das Monster irgendwann entpuppt, noch zusätzliche Antagonisten gibt.
Irgendwann weiß zwar niemand mehr, wer genau welche Interessen verfolgt oder wer wirklich böse oder gut ist, wenigstens lassen die vielen Parteien aber immer wieder zu, neue Charaktere einzuführen bzw. alte sterben zu lassen und vor allem, aus verschiedenen Perspektiven das ganz große, alles umspannende Mysterium anzudeuten und auszuschmücken, ohne jemals konkret werden zu müssen.
Nebenbei benenne man immer wieder Figuren nach Philosophen und Physikern und streue Querverweise zu ausgestorbenen Hochkulturen her, um die Gaudi auch für Feinspitze zu würzen.
ABC
Werden nach zweiundsiebzig Folgen drei weitere Staffeln in Auftrag gegeben, beginne man nach und nach, Science Fiction – Elemente einzustreuen. Die bereits vorgestellte elektromagnetische Strahlung führt plötzlich zu Zeitsprüngen und lässt Teleportationen zu. Nebenbei verführe man die Zuseher mit Verweisen auf bereits Gesehenes, an den großen Masterplan für die ganze Serie zu glauben, der irgendwann unzählige Handlungsstränge zu einem schlüssigen Finale zusammenführen wird.
Damit die Darsteller auf Hawaii keinen Lagerkoller bekommen, dürfen einige Hauptfiguren die Insel auch verlassen, um dann irgendwann inneren oder äußeren Stimmen zu folgen, die ihnen weismachen, die Insel wäre noch nicht mit ihnen fertig.
Das Ron Tyler Archiv wusste es schon immer:
Kurz vor Schluss führe man erst den ganz großen, entscheidenden Mythos ein. Zwei Brüder, ein Spiel mit undurchschaubaren Regeln, das trotz jahrtausendelanger Dauer nichts an Knusprigkeit zu verlieren scheint, und das Herz der Insel (der Lahme sah es bereits in der ersten Staffel, Masterplan!), welches beschützt werden muss, und zwar entweder von dem blonden Bruder oder von einem Beschützer-Kandidaten, von denen wiederum nicht zufällig einige im abgestürzten Flugzeug saßen. Den möglichen Nachfolgern wurden Nummern zugeteilt (Zahlen, erste Staffel, Masterplan!). Und die sterblichen Überreste des anderen Bruders, der nunmehr als Rauchmonster sein Unwesen treibt, hat der Beschützer-Bruder zusammen mit beider Mutter in eine Höhle gelegt, just in jene, wo bereits in der ersten Staffel zwei Skelette gefunden wurden (Wir haben es immer gewusst!).
Nachdem im Endspurt durch vier, fünf Andeutungen und ein paar erklärte Nebensächlichkeiten hinreichend bewiesen wurde, dass man immer schon eine große Geschichte erzählt hat, lasse man das zweistündige Finale nach einer ausgewogenen Mischung aus Action und Zungenküssen in einem Nirvana aus gleißendem Licht enden, um das sich ja eigentlich immer alles drehte. Das stellt sich eben erst in den letzten zehn Minuten heraus, sonst hätten die Atheisten ja die Quoten gedrückt.
ABC
Trotzdem danke
So ungefähr sieht mein Fazit in Form eines fiktiven (?) Masterplans aus. Und dennoch bin ich heilfroh, zum spätberufenen LOST-Fan geworden zu sein. Schließlich konnte man mir erfolgreich vorgaukeln, einen hochkomplizierten, nie eindeutigen Plot mit teils sehr facettenreichen Figuren und erstaunlich vielen parallelen Handlungssträngen, komplexen Rätseln und vielfältigen kulturellen Verweisen am Ende schlüssig zu Ende zu erzählen. Alleine das ist eine wegweisende Leistung.
Ich bin dankbar für dutzende Stunden glänzender Unterhaltung und ebenso viele Stunden an Diskussionen darüber. Und vielleicht bin ich sogar dankbar für die mäßige sechste Staffel und das fahle Ende, denn so ist die erzwungene Suchtentwöhnung etwas leichter.