Erstellt am: 26. 5. 2010 - 16:12 Uhr
Lost my Religion
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Lost my Religion: Christian Fuchs' Abgesang auf ein Fernsehphänomen
Der Lost - Masterplan: Marc Carnal über das fahle Finale einer faszinierenden Erzählung. Spoiler-Alarmstufe gelb!
In der vergangenen Nacht war es mit kleiner Verspätung endlich soweit. Alle wichtigen Abendtermine und Konzertbesuche wurden abgesagt, sogar das runde Geburtstagsfest eines guten Freundes musste leider ignoriert werden.
Denn: Die kleine "Lost"-Runde, der ich seit Jahren angehöre, traf sich zum Final Countdown. So wie Millionen anderen Insel-Junkies auf diesem Planeten stand uns der Abschied bevor, die Auflösung, die Enthüllung. Ein letztes Mal würden wir aus unserem selbstbeklebten Dharma Initiative-Flaschen trinken.
Ines Häufler
Eine Mischung aus kribbeliger Anspannung und seltsamer Teilnahmslosigkeit lag in der Luft.
Ersteres, weil "Lost" unter all den großartigen TV-Serien der Nullerjahre mit einem besonders hohem Suchtpotential nochmal herausragte, weil hier Verschwörungstheorien, semiphilosophische Diskurse und halbwissenschaftliche Gedanken mit einer Art der Spannungserzeugung kollidierten, die man etwa aus dem Kino kaum mehr kennt.
Die komische Apathie, die aber auch im Raum herumschwirrte, resultierte aus den letzten Folgen der sechsten Staffel. Konsequent hatte sich darin das Produzenten-/Autoren-Duo Carlton Cuse und Damon Lindelof in eine Richtung bewegt, die uns kollektiv frustierte.
Manche Schlüsselepisoden fühlten sich an, als ob Steven Spielberg und George Lucas, Hollywoods Gralshüter des infantilen Fantasy-Kitsch, plötzlich die Serie übernommen hätten. Dabei zeichnete sich "Lost" lange gerade durch die originelle Umgehung von Standard-Momenten des Sci Fi-Kinos aus. Während der ersten vier Staffeln war nicht einmal klar, ob sich die Macher je auf dezitiertes Terrain bestimmter Genres begeben würden.
ABC
In der fünften Season positionierte sich das Insel-Drama schließlich auf eindeutige Weise. Aber die Komplexität, mit der Cuse und Lindelof sich der abgedroschenen Zeitreise-Thematik näherten, raubte einem stellenweise den Atem. Ein durchgehende Fernseherzählung der unzähligen spannenden Zitate und Querverweise war das, die radikalst mögliche Antithese zu formelhaften Case of the week-Serien mit ihren abgeschlossenen Ministories.
All die Gedankengebäude, das Theorien-Geschwurbel und der Referenzwahnsinn - der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich etwa an einen gescheiterten Versuch, sich deswegen ins Werk von Stephen Hawking einzulesen - haben jetzt ein Ende.
Denn "The End", die überlange Doppelfolge, die am Sonntag abend über amerikanische Bildschirme flimmerte und die gestern unsere private "Lost"-Runde paralysierte, wirft den Großteil des diffizilen Fragenkatalogs, der von Staffel Zwei bis Fünf die Köpfe rauchen ließ und die Herzen zum Rasen brachte, wie lästigen Ballast ab.
ABC
Plötzlich reduziert sich alles auf Metaphysik und verschwurbelte Esoterik, die im Verlauf des Finales schließlich von überdeutlicher christlicher Symbolik abgelöst wird. Kann das denn wirklich wahr sein, was uns Cuse und Lindelof da zumuten, fragten sich nicht nur jene "Lost"-Junkies unter uns, die ihren Kirchenaustritt schon lange hinter sich haben.
Passend zum religiösen Hokuspokus, einem dazugehörigen Fest der Liebe und diversen Gruppenumarmungen können die Serienmacher auch nicht auf den gleissenden Licht-Showdown verzichten, der zum Ende jedes erfolgreichen cheesy Fantasy-Blockbusters gehört.
ABC
So und hier sitze ich nun, mit einen mächtigen emotionalen Kater. Und versuche mit diesen Zeilen hier die Enttäuschung zu verarbeiten.
Natürlich ging es in "Lost" immer auch ganz zentral um die Charaktere, um die anfänglich reißbretthaft angelegte Überlebenden-Schar, die im Lauf der Zeit durch ihre Facetten, Untiefen und Defekte faszinierte.
Die Survivors, die eine offensichtliche Metapher für die Post-9-11-Gesellschaft darstellten, funktionierten mit ihren Leiden als schönes Spiegelbild von uns arme, dysfunktionale Zuschauerlein.
Aber bei aller Liebe für die Losties und auch die Others und sogar die Other-Others, für Sawyer, Desmond, Sayid, Locke, Hurley und den großartigen Ben, für meinen Liebling Faraday und auch Kate und Jack, die anfänglichen Fadgas-Hübschlinge, die zu hitzköpfigen Antihelden mutierten, wegen den Figuren alleine hätte ich mir diese Show nie angeschaut.
Es ist das Geheimnis, das "Lost" zur Droge, zum Fieber, zum Ausnahmezustand machte, auch abseits von Genre-Unterhaltung.
Weil es in einer entzauberten Gegenwart, wo die naturwissenschaftlichen, soziologischen und ideologischen Vermessungen nur ein Vakuum zurückgelassen haben und das Internet den letzten Rest Rätselhaftigkeit zerstört, zum kostbarsten Gut geworden ist.
ABC
"Ich liebe Geheimnisse", bringt es David Lynch, dem wir geniale Verwirrspiele wie "Twin Peaks", "Lost Highway" oder "Mulholland Drive" verdanken, auf den Punkt. "Sich dem Geheimnis und der Gefahr hinzugeben, macht das Leben viel intensiver. Wenn Geheimnisse aufgelöst werden, fühl ich mich schrecklich betrogen. Es ist unglaublich schön, wenn da noch ein Rest Mysterium bleibt".
Dabei geistern tatsächlich noch etliche Fragezeichen im "Lost"-Universum herum, die Hardcore-Geeks weiterhin beschäftigen. Und Cuse und Lindelof demystifizieren ihr Serienwunder auch nicht auf schnöde rationale Weise, wie in all den Spurensicherungs-Serien-Machwerken, die nichts im Dunkeln lassen.
Aber das eindeutige Bekenntnis zu katholisch gefärbten Bildern, kommt für alle, die die konstruierte Mythenwelt des Christentums eher belächeln, einer doppelten Ernüchterung bei.
Du liebe Dharma Initiative, wir reden von "Lost", einer speziellen Ersatzreligion für sich, einem Phänomen, dass Teilen der westlichen Weltbevölkerung bisweilen den Schlaf raubte. Ich habe erwachsene Menschen zittern sehen vor Spannung, die jetzt wohl nur mehr belustigt mit den Schultern zucken.
Ines Häufler
Bevor ich mich hier in einen Furor hineinschreibe, muss aber schon etwas Wichtiges festgehalten werden. Die hunderten Stunden Gänsehaut und Begeisterung, die gemeinsamen Fernseh-Abende, die lustvollen einsamen Nächte im Netz auf Lostpedia & Co., all das kann mir und meinen Freunden keiner nehmen.
Der wundervolle Schrecken, als das Smokemonster aus dem Dschungel auftaucht. Der Grusel beim Erstkontakt mit Jacobs Hütte. Die Rührung beim Wiedersehen von Penny und Desmond. Das Lächeln bei Faradays Mimik und Gestik.
Wenn von "Lost" eine gewisse Leere zurückbleibt, die hinter jedem aufgelösten Geheimnis steckt, dann auch gleichzeitig eine ewige Erkenntnis: Der Weg ist das Ziel.