Erstellt am: 17. 5. 2010 - 11:14 Uhr
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FC St. Pauli
Die Totenkopfflagge war ursprünglich ein Symbol der Hausbesetzer von der Hafenstraße, die es als Hommage an den legendären Piraten Klaus Störtebeker verstanden. Hafenstraßenbewohner Doc Mabuse brachte den Jolly Roger ins Millerntorstadion, heute ist er quasi das zweite Vereinswappen und profitabelster Merchandise-Brand des FC St. Pauli. Doc Mabuse bezeichnet sich inzwischen als Fan von Altona 93 und ist nur noch selten am Millerntor. Und vom Merchandise-wahnsinn hat der FC St. Pauli auch nicht wirklich etwas, weil er die Rechte in einer akuten Finanzkrise bis zum Jahr 2034 verkaufen musste.
Heute ist die Totenkopffahne mit dem "St. Pauli" Schriftzug ikonografisch genauso bedeutsam wie Kordas berühmtes Foto vom heiligen Che – zumindest im deutschsprachigen Raum. Wer sich als Sympathisant des linksalternativen Spektrums zu erkennen geben (oder zumindest vom Rebellenimage profitieren) möchte, der trägt St. Pauli genauso gern wie Guevara. Dabei waren sich Fußball und linksalternative Lebenskultur zum 75sten des Hamburger Stadtteilvereins noch in etwa so grün wie BP und Global 2000. Doch dann ist was passiert.
FM4 / Rainer Springenschmid
Aus den Kurven vertrieben
Es war ja nicht so, dass Punks und Alternative nie zum Fußball gegangen sind. Aber Anfang der Achtziger Jahre waren die Kurven in Deutschland zunehmend neonazistisch unterwandert – die Szene um Michael Kühnen erhoffte sich, nicht ganz zu Unrecht, in den Stadien leicht rekrutierbare Massen. Bei den damals vergleichsweise geringen Zuschauerzahlen brauchte es nicht allzu viel Manpower, um die Hegemonie in den Kurven zu erobern. Die vorherrschende Grundhaltung bei vielen Kuttenfans und Hooligans kam den Neonazis dabei durchaus entgegen. Für einen erkennbar Linken konnte ein Stadionbesuch Anfang der Achtziger durchaus gefährlich sein.
Der FC St. Pauli war damals ein Stadtteilverein, der in der dritten Leistungsstufe dümpelte, mit relativ geringen Zuschauerzahlen. Ein völlig normaler, bürgerlicher Fußballclub, der seine besten Tage bereits gesehen hatte. Das Stadion lag mitten in der Stadt, direkt am Viertel, nah am Hafen und damit nah an den umkämpften besetzten Häusern in der St. Pauli Hafenstraße. Das mag dazu beigetragen haben, dass Mitte der Achtziger Jahre Punks und Autonome (nicht wenige davon vorher Fans des HSV) anfingen, sich auf der Gegentribüne des Millerntorstadions, beim FC St. Pauli, zu treffen. Natürlich gab es dort auch rechte Fans, aber hier waren die Chancen weit besser, eine andere Stadionkultur durchzusetzen. Eine Stadionkultur ohne Rassismus hieß das zunächst, und das verstanden die neuen Anhänger durchaus als politisches Projekt.
FM4 / Rainer Springenschmid
„Mit roher Gewalt“, sagt Chrischan, gefragt nach der Methode, wie der Schwarze Block das Stadion rassismusfrei machte. Chrischan kommt aus der Hamburger Punkszene und ist 1986 über Kumpels zum FC St. Pauli gestoßen. Das ist zwar nicht die ganze Wahrheit, denn mit roher Gewalt alleine – und vor allem ohne offene Ohren in der Vereinsführung – hätten sich die Antifaschisten sicher nicht so durchsetzen können. Der Schwarze Fanblock hatte zwar einen politischen Anspruch, den er eben, wenn es nicht anders ging, auch mit roher Gewalt durchsetzte (und rohe Gewalt war in den Hegemoniekämpfen im Stadion auch kein ungewöhnliches Mittel). Aber zunächst einmal waren auch die Punks einfach Fußballfans, und zwar durchaus engagierte, die ihre Mannschaft lautstark und hingebungsvoll unterstützten. Bald war das Stadion und sein Millerntor Roar wegen seiner Atmosphäre gefürchtet.
Der Millerntor Roar
Rainer Springenschmid
Der Verein erkannte schnell, dass er von seinem neuen Fanpotenzial durchaus profitieren konnte. Und so war der FC St. Pauli der erste deutsche Profiverein, der den Verkauf von rassistischen Aufnähern – Reichskriegsflaggen, "Deutschland den Deutschen" und ähnliches wurde damals völlig selbstverständlich vor den Stadiontoren feilgeboten – oder das Tragen von rechtsextremen Codes im Stadion verbot; das Verbot von rassistischen, sexistischen und homophoben Äußerungen im Stadion in seine Vereinssatzung aufnahm. Und nicht zuletzt war er der erste deutsche Proficlub, der ein Fanprojekt startete und die Anhänger in die Vereinsarbeit mit einbezog.
Rainer Springenschmid
Das "Schmidt"-Theater an der Reeperbahn im St. Pauli Look am Tag nach der Aufstiegsfeier. Schmitt-Betreiber Corny Littmann wurde mitten in der Existenzkrise des Jahres 2002 Präsident des FC St. Pauli, und an ihm scheiden sich seitdem die Geister. Er hat mit der "Retter"-Kampagne den FC St. Pauli vor der Pleite bewahrt. Er ist für die Journalisten, die so gern vom "Freudenhaus der Liga" schreiben, das perfekte St. Pauli Klischee: ein schwuler Theater-macher von der Reeperbahn, der auf Pressekonferenzen schon mal besoffen im Eck steht. Er ist aber auch einer, der viele Fans gegen sich aufbringt, zum Beispiel mit Marketingkampagnen, die eben diese Klischees auspressen wie Zitronen.
In den folgenden Jahren stieg der FC St. Pauli bis in die erste deutsche Bundesliga auf. Anfangs waren die Chaoten und ihr antirassistischer Anspruch noch verpönt; mit dem Motto "Politik und Fußball sollen gefälligst getrennt bleiben" übersahen die Verbands-Funktionäre nicht nur Bundeskanzler und Bürgermeister auf den Ehrenplätzen, sondern überhörten auch geflissentlich Affenlaute für schwarze Spieler und Anti-Ausländer-Sprechchöre aus den Kurven.
Doch recht schnell merkte man auch beim Verband und bei anderen Vereinen (trotz ideologischer Vorbehalte), dass sich ein Stadion als Spaßplatz auch deutlich besser vermarkten ließ, als eine vom Ruch von Gewalt, Rassismus und Hooliganismus umgebene Kurve. Der Schwarze Block erlangte deutschlandweite Aufmerksamkeit und Sympathie. In der Fanszene trauten sich auch an anderen Orten linke und antifaschistische Fans wieder ins Stadion, Vereine ließen sich motivieren, antirassistische Fanprojekte zu finanzieren, auch in der Hoffnung, das Hooliganproblem in den Griff zu bekommen. Nazi-Gangs wie die Borussenfront in Dortmund wurden von den Tribünen verbannt oder verloren ihren Einfluss. Die Zuschauerzahlen in deutschen Stadien stiegen deutlich. Und inzwischen haben sich sogar der DFB und die UEFA dem Kampf gegen Rassismus im Stadion verschrieben.
Gentrifizierung eines Fußballclubs?
Heute ist der FC St. Pauli der feuchte Traum jedes Marketingunternehmers: ein selbstgeneriertes Rebellen- und Spaß-Image – mehr street geht nicht, mehr sympathisch geht nicht. Selbst die eher peinlichen und unbeholfenen Klischees vom Freudenhaus der Liga, vom Kiez- und/oder Kult-Club tun der Euphorie keinen Abbruch. Nach dem FC Bayern hat der FC St. Pauli die meisten Sympathisanten im deutschen Profifußball (nicht zu verwechseln mit Fans, denn viele dieser Symathisanten sind eigentlich Fans anderer Clubs).
Rainer Springenschmid
Und jedesmal wenn die Fans etwas verhindern, wonach sie anderswo nicht einmal gefragt werden (zum Beispiel beim Verkauf des Stadionnamens), gewinnt die Marke St. Pauli wieder an Wert: weil das Rebellen-Image wieder aufgeladen wird.
Tapete Records
Zum 100. Geburtstag des FC St. Pauli ist auch eine besondere CD Box von Tapete Records veröffentlicht worden.
100 Lieder von Musikern wie Björn Beton von Fettes Brot, Station 17, Thees Uhlmann von Tomte, Bela B. von den Ärzten - und die Damenmannschaft des FC St. Pauli ist als Chor darauf vertreten. Aufgenommen im alten, inzwischen abgerissenen Clubhaus im Millerntorstadion.
Die Gentrifizierungsmechanismen greifen auch hier: Welcher Familienvater oder Bürohengst sonnt sich nicht gern im Schatten des unangepassten Rebellenvereins? Und so ist der FC St. Pauli in den Gentrifizierungsprozess des Viertels genauso eingebunden wie er Opfer ist. In der neuen Haupttribüne, die derzeit im Bau ist, finden sich selbstverständlich auch Logen und Business Seats. Sie heißen halt anders. Der Kommerzialisierungsdruck des Profifußballs hinterlässt auch hier seine Spuren.
Aber der FC St. Pauli lebt, allen Unkenrufen zum Trotz, auch als politisches Projekt weiter. Anti-Rassismus-Arbeit ist weiter ein zentrales Anliegen des Vereins, so fand zum Beispiel am vergangenen (Jubiläums-)Wochenende ein Fußballturnier antirassistischer Fangruppen aus ganz Europa statt. Der Arbeitskreis Fördernde Mitglieder (AFM), in dem viele aktive Fans organisiert sind, ist die zahlenmäßig stärkste Abteilung des Vereins; ein Teil des Aufsichtsrats stammt aus dem Fanlager, zentrale Positionen in der Geschäftsführung sind mit Leuten besetzt, die aus der Fanszene kommen.
Rainer Springenschmid
Das politische Projekt FC St. Pauli wird so lange weiter bestehen, so lange sich die Kommunikationskultur im Verein hält, so lange der Vorstand von den Fans gebremst wird und das auch zulässt. Das Besondere am FC St. Pauli ist, das sagen alle Gesprächspartner, ob Ultra oder Aufsichtsrat, dass man hier immer und immer wieder Konflikte zulässt und austrägt. So lange das so ist, so lange bleibt der FC St. Pauli ein Unikum im Profifußball.