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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

20. 2. 2010 - 20:54

Die Politik des Untergangs

An diesem Wochenende ist die 60. Berlinale zu Ende gegangen und hinterlässt ein Gefühl von Ratlosigkeit.

Schlaglichter.

Februar 1965

Mann

www.theauteurs.com

"Secrets behind the Wall"

Im Wettbewerb der Berlinale läuft Secrets behind the Wall des japanischen Regisseurs Wakamatsu Koji. Ein deutscher Vertrieb hatte den Film zuvor eingekauft und ihm in der Prestigesektion von einem der renommiertesten Filmfestivals der Welt untergebracht. Wakamatsu erzählt darin von der voyeuristischen Obsession eines jungen Mannes zu seiner Nachbarin, einer ehemaligen Friedensaktivisten, die schlussendlich zu einer Wahnsinnstat führt. Die offiziellen japanischen Kulturvertreter waren von der Auswahl des Films nicht begeistert, da sie "Secrets behind the Wall" zum Subgenre der "pinku eiga", also Softsexfilmen zählten und ihn nicht als adäquate Abbildung des japanischen Filmschaffens ansahen, sogar als "nationale Schande" bezeichneten. Es folgte ein Boykott des Festivals und eine Festschreibung Wakamatsus als politischer Auteur, der nach seiner Rückkehr in die Heimat seine eigene Produktionsfirma gründete. "Secrets behind the Wall" erhielt keine Auszeichnung.

Februar 1970

Männer, Krieg

Berlinale

Der Film, der die Berlinale 1970 stürzt: "O.K." von Michael Verhoeven

Die ersten Tage der Berlinale verlaufen unruhig. Die anwesenden Kritiker mokieren lautstark die schlechte Qualität der bislang vorgestellten Wettbewerbsfilme, viele davon werden auch vom Publikum mit Buhrufen quittiert. Erst die Weltpremiere von Michael Verhoevens brechtischem Vietnamkriegsdrama O.K. erntet Applaus, aber auch Missverständnis. Der deutsche Regisseur erzählt darin einen überlieferten Fall aus dem Kriegsgebiet im bayerischen Wald nach (mit Gustl Bayrhammer als "Captain"!), der US-Jurypräsident George Stevens meinte darin anti-amerikanische Tendenzen auszumachen und verlangte, dass der Film vom Selektionskommittee erneut auf seine Teilnahmetauglichkeit geprüft wird. Die Organisatoren kommen seinem Wunsch nach, Stevens Jurykollegen (darunter Dusan Makavejev und Alberto Lattuada) kritisieren dieses Vorgehen hingegen als Zensur. Es kommt zum Eklat: Der Zoopalast wird tagelang besetzt, Festivaldirektor Alfred Bauer bietet seinen Rücktritt an, schließlich wird das Festival abgebrochen. Preise werden nicht vergeben.

Februar 2010

Die 60. Berlinale, eine Jubiläumsausgabe mit allerlei Weihungen und Weihräucherungen, ist am vergangenen Wochenende zu Ende gegangen, die Bären sind vergeben, die, da bin ich derselben Meinung wie Jury-Präsident Werner Herzog, nicht viel mehr Wert haben als gesammelte Hundemarken. Insofern nehme ich mir an dieser Stelle die Freiheit heraus, verweise auf die Auflistung sämtlicher Ausgezeichneten am Ende dieses Textes und schreibe jetzt über etwa Anderes, nämlich eine Beobachtung.

Es dauert mindestens einige Jahre, bis man ein Gefühl bekommt für ein Festival, für dessen Programmierung, dessen Vorlieben und Abneigungen, bis man in etwa einschätzen kann, wieso dieser Film und nicht ein vollkommen anderer es in den Wettbewerb und damit die aufmerksamkeitsstärkste Sektion geschafft hat. Das ist es, was übrig bleibt: eine Handvoll Filme, ein Jahrgang, eine Auslese. Wie der Weinanbau unterliegt auch die Selektionskultur einer Vielzahl an oftmals unbeeinflussbaren Faktoren, weswegen die gezeigten Filme dann auch keinesfalls als repräsentativ oder "besonders wertvoll" eingestuft werden sollten. Ich fahre jetzt seit insgesamt sieben Jahren alljährlich nach Berlin und meine mittlerweile gewisse Bewegungen und Entscheidungsgrundlagen hier ausgemacht zu haben, die es vielleicht auch euch leichter machen, den Wettbewerb zu durchmessen.

  • Die China-Achse

Im Verlauf der letzten Jahre war die internationale Aufmerksamkeit für das aktuelle chinesische Filmschaffen auf jedem Filmfestival messbar. Vor allem die westlichen Branchenbesucher schreiben dem roten Riesen in Fernost ein exotisches Potenzial zu, empfinden die oftmals im Untergrund, weit weg vom Apparat geplanten, finanzierten und realisierten Filme wie etwa diejenigen von Jia Zhang-ke, als aufregend, weil sie so viel politische Sprengkraft besitzen, ein tatsächliches revolutionäres Potenzial, welches man in Wohlstandsfilmen nicht mehr finden kann. Mittlerweile hat sich das Filmbild von China als zerrissenes Land, gesteuert von einem omnipräsenten Apparat, der für seine radikale Modernisierungspolitik Hunderttausende zwangsumsiedelt, in die internationale Filmfestivalkultur gefressen: durchaus zu Recht, denn die sechste Generation chinesischer Regisseure (zu der auch Jia Zhang-ke gehört) hat eine so realistische wie poetische Bildsprache gefunden, um die diversen Widersprüchlichkeiten des gelebten Alltags zum Ausdruck zu bringen.

Chinesen, Jugendliche

www.laceysfilms.com

Jia Zhang-kes "Platform" wird zu einem Zündfunken der sechsten chinesischen Regisseursgeneration.

Anfang dieser Woche torkele ich frühmogens betäubt, erschlagen aus dem Berlinale-Palast: Gerade ist die Pressevorführung von Zhang Yimous A Woman, a Gun and a Noodleshop zu Ende gegangen, vor einem Publikum, welches sich vor Lachen auf die Schenkel klopfte und die Groteske (ein Remake des Debütfilms der Coen-Brüder "Blood Simple") mit wohlwollendem Applaus quittierte. Zornig sauge ich an meiner Zigarette, meine Augen sind wässrig, über mir plärrt ein gewaltiger Monitor die jüngste Sponsoren-Werbung in die Eiseskälte hinaus. Eine Bekannte, die für das Filmfestival von Venedig programmiert, kommt mir stählernen Schritts entgegen: "Es ist eine Frechheit! Die Chinesen sind außer sich!"

Wüste, Mann

Berlinale

Bunt und sonst nichts mehr ist Zhang Yimous "A Woman, a Gun and a Noodleshop".

Sie meint damit nicht die staatsnahen Kulturpolitiker, sondern jene Allianz aus unabhängigen Produzenten und anderen Filmkreativen, die sich ihren guten Ruf in der Branche über die letzten Jahre hinweg hart erarbeitet haben – und deren Bemühungen jetzt mit der Aufführung von Zhang Yimous historischer Komödie, die nichts ist als bloße Ästhetik (damit ist er nah dran an den Coen-Brüdern), und der Wahl von Wang Quan'ans bedeutungsloser Herbstromanze Apart Together, die im Übrigen von Yimou produziert worden ist, als Eröffnungsfilm, einen massiven Dämpfer erfahren. Journalisten, die sich im Weltkino nicht so zurecht finden, finden diese Arbeiten "lustich", einfaches Unterhaltungskino mit exotischen Artefakten: eine Naivität, die allerdings nicht verschleiern kann, dass in Berlin seit Jahren nur mehr die staatsnahen, repräsentationsfähigen chinesischen Produktionen in den Wettbewerb gehievt werden, womit das Festival die Entpolitisierungsbestrebungen des Apparats – bewusst oder nicht – unterstützt.

  • Die Hipster-Malaise

Spätestens mit der Dogma-95-Bewegung ist das skandinavische Kino, gruppiert um Regisseure wie Lars von Trier und Thomas Vinterberg, in der Massenwahrnehmung angekommen. Im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb waren gleich drei Produktionen aus dem hohen Norden vertreten: Thomas Vinterbergs Sozialporno Submarino wurde wohl vor allem aus Gründen der Hipness in den Wettbewerb gehievt, während En familie der Dänin Pernille Fischer zwei überzeugende Argumente für sich aufweisen konnte. Zum einen ist sie mit ihrem Vorgänger "En soap" sehr erfolgreich am Festival gelaufen, zum anderen ist ihr Film von Lars von Triers Produktionsfirma "Zentropa" finanziert worden. Ist man als Künstler erstmal in den Aufmerksamkeitskanal eingespeist, ist es natürlich viel einfacher einen Film in einem renommierten Fesival unterzubringen.

Mann, Frau

Berlinale

Thomas Vinterbergs "Submarino" war einer der schlechtesten Filme des Festivals. Aber der bekannte Regisseursname macht die Entscheidung der Berlinale, ihn in den Wettbewerb einzuladen, verständlicher.

Festivals wie die Berlinale sind aber nicht dazu da, blindlings ausgerufenen Bewegungen zu folgen, sondern im besten Fall neue zu stimulieren oder zu entdecken. Die Potenz des skandinavischen Filmschaffens in diesem Berlinale-Jahrgang steht in überhaupt keiner Relation zur Qualität der Arbeiten, sondern ist eher der Politik der Aufmerksamkeiten zuzuschreiben. Ähnliches gilt für das Filmland Iran, das aus diversen, teilweise äußerst dubiosen Gründen (etwa dem Charity-Bewusstsein, dass der aufgeklärte Westen Filmemacher aus "diesen Ländern" unterstützen muss) immer noch Dauergast auf Filmfestivals ist (Rafi Pitts unerklärlicher neuer Film gastierte im Berlinale-Wettbewerb) ebenso wie Rumänien, das nach etlichen kritischen Erfolgen seit einiger Zeit die neue Hipster-Nation des Weltkinos (eine andere ist Kasachstan, wieder eine andere der gesamte südostasiatische Raum, im Besonderen Thailand mit der Leuchtfigur Apichatpong Weerasethakul) ist.

  • Der langsame Tod

Tarkovskij mag zwar tot sein, seine Wirkung vor allem auf die intellektuellen Festivalbeobachter ist nachwievor ungebrochen, weshalb man dieselben immer wieder mit langsamen, vorgeblich kontemplativen und/oder transzendenten Filmerlebnissen ködern kann, die Erfolge gegen massenkompatiblere Ware davontragen. For the Sake of Film Art, oder so ähnlich. Beispiele im Berlin-Wettbewerb: Rafi Pitts The Hunter und Semih Kaplanoglus Honey.

Mann, Waffe

Berlinale

Rafi Pitts "The Hunter" ist die Geschichte eines Mannes, dessen Familie vom iranischen Regime ermordet wird, der sich dann rächen will. Außer Langsamkeit hat das Drama wenig zu bieten
  • Altlasten

Stell dir vor, du feierst deinen Geburtstag und lädst immer wieder dieselben Langeweiler ein, nur weil sie schon öfters bei dir zu Gast waren. So verhält es sich mit jenen Regisseuren, die in der Vergangenheit einen Goldenen (oder Silbernen) Bären nach Hause tragen durften und die mit ihren neuen Arbeiten – oftmals rein aus einem Respektsgefühl heraus – wieder in den Wettbewerb gehievt werden. In diesem Jahr ganz besonders bitter: die Bosnierin Jasmila Zbanic (Grbavica) mit ihrem Spießerdrama On the Path.

Mann, Frau

coop99

Mit Thomas Vinterbergs "Submarino" der schlechteste Film des diesjährigen Berlinale-Jahrgangs: Jasmila Zbanics "On the Path"

Die Nummer Null

Ich könnte hier jetzt noch stundenlang weiter schreiben und vielleicht verfasse ich irgendwann einmal ein Buch über meine Beobachtungen, aber was ich damit vor allem zum Ausdruck bringen wollte, ist, dass Filmfestivals zwingend notwendige Börsen sind, die das Denken, Schreiben und Reden übers Kino anschieben und in spannende Richtungen lenken, die kleine Produktionen pushen und aufgeblähte Filme aushebeln können, aber dass das erste Zahnrad in dieser gewaltigen Maschine eher zufällig in die eine oder andere Richtung ausschlägt. Insofern sind auch die unten stehenden Preise mit Vorsicht zu behandeln.

Was jedenfalls aus dieser eigentümlichen Gemengelage entsteht, ist eine ideologische Nullnummer: Die Berlinale ist nicht mehr wie in früheren Zeiten das "politischste aller Großfestivals", sondern ein Stadl, in dem alles Platz hat – vom staatsnahen Apparatfilm über eine linsklinke Polemik (Wakamatsu Kojis "Caterpillar") und eine schon im Vorfeld (zu Unrecht) skandalisierte historische, dabei aber vollkommen unideologische Nazi-Groteske (Oskar Roehlers dummer, aber unterhaltsamer "Jud Süss – Film ohne Gewissen", über den das deutsche Feuilleton noch Monate lang rascheln wird) und einen konservativen Familienfilm (Pernille Fischers "En Familie") hin zu artistischen Fluchtpunkten, die sich vor allem über ihre Ästhetik definieren (Zhang Yimou). Für jeden ist etwas dabei; Berlin ist vom Aufreger zum Walmart geworden, in dem jeder nach Belieben einkaufen kann. Das Zeitalter der Ideologien ist vorbei: im Leben und im Kino.

Die Preise der Internationalen Jury 2010

Goldener Bär für den Besten Film
Bal (Honey)
von Semih Kaplanoglu

Silberner Bär - Großer Preis der Jury
Eu cand vreau sa fluier, fluier (If I Want To Whistle, I Whistle)
von Florin Serban

Silberner Bär - Beste Regie
Roman Polanski
für The Ghost Writer (The Ghost Writer)

Silberner Bär - Beste Darstellerin
Shinobu Terajima
in Caterpillar (Caterpillar) von Koji Wakamatsu

Silberner Bär - Bester Darsteller
Grigori Dobrygin
in Kak ya provel etim letom (How I Ended This Summer)
von Alexei Popogrebsky

ex aequo

Sergei Puskepalis
in Kak ya provel etim letom (How I Ended This Summer)
von Alexei Popogrebsky

Silberner Bär - Herausragende Künstlerische Leistung in der Kategorie Kamera
Pavel Kostomarov für die Kamera in
Kak ya provel etim letom (How I Ended This Summer)
von Alexei Popogrebsky

Silberner Bär - Bestes Drehbuch
Wang Quan'an und Na Jin
für Tuan Yuan (Apart Together)
von Wang Quan'an