Erstellt am: 30. 12. 2009 - 15:24 Uhr
Weinen vor Freude
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Vergessen wir bitte kurz all die öden Sequels und Prequels, die hirntoten Actionvehikel, die ruckelnden, zuckelnden und amoklaufenden Kameras und immer gleichen, austauschbaren Storys.
Denn die Nullerjahre waren vor allem auch ein umwerfendes, berührendes, magisches Kinojahrzehnt.
Mir wurde das erst so richtig bewusst, als ich in den letzten Tagen, während mir vor lauter Rückblicken längst der Kopf schwirrte, alte Filmtexte wiedergelesen habe, diverse selbstverfasste Listen studierte und mir vor allem zentrale Lieblingsszenen in Erinnerung rief.
Wie so oft hängt das Schöne dabei mit dem Schrecklichen zusammen. In den Trümmern der Twin Towers wurde nämlich auch der zynische Spirit der Neunziger begraben, diese falsch verstandene Ironie und zur Apathie neigende Coolness. Stattdessen kroch aus den Ruinen von 9/11 eine neue Befindlichkeit.
Focus Features
Man durfte sich wieder zum Fühlen bekennen, ohne von den Verfechtern der Postmoderne hämisch ausgelacht zu werden. Nach komatösen Jahren der Abgeklärtheit, in denen Emotionsausbrüche als Fauxpas behandelt wurden, ging es plötzlich wieder um Intensitäten, Sensibilitäten, Umarmungen, um stolz ausgestellte Freude, Trauer, Ekstase.
Mit esoterischer Naivität und hippiesker Weichgespültheit hatte dieser Zustand glücklicherweise wenig zu tun. Denn in einer Zeit der omnipräsenten Kriege und Katastrophen gab es, pathetisch gesprochen, kein Licht ohne Schatten, kein hymnisches Jauchzen ohne Klagegesänge, keinen Rausch ohne Katerstimmung.
Siehe sämtliche zentrale Bands der Nuller, von Arcade Fire über die Yeah Yeah Yeahs bis zu LCD Soundsystem oder MGMT, die mit Emphase und überbordender Leidenschaft die traumatisierende Gegenwart zu übertönen versuchten.
Und natürlich Filmemacher wie David Lynch, Sofia Coppola, Paul Thomas Anderson, Quentin Tarantino, Ulrich Seidl, Christopher Nolan, Wong Kar-Wai, Takashi Miike, Wes Anderson, Chang Wook-Park, Michael Mann, Jacques Audiard, um nur einige Namen zu nennen, die unsere inneren und äußeren Zerrüttungen in oftmals befreiende, mitreißende Bilder verpackten.
Lionsgate
Natürlich gab es weiterhin die sinnentleerten Spektakel, die nur um sich selbst und ihre perfiden Marketingkonzepte kreisten. Aber im Gegenzug bemühten sich auch etliche Genreproduktionen darum, den Eskapismus mit dringlichen Themen zu verbinden, was in Hollywood zuletzt in den Siebzigern passiert war.
Das Horrorkino, in den Neunzigern noch ein Terrain ödester Selbstreferentialität, in dem jugendfreier Highschool-Teenie-Splatter regierte, radikalisierte sich unter dem Eindruck von terroristischen Köpfungsvideos und YouTube-Foltervideos.
Das Blut durfte wieder in Fontänen spritzen wie in den seligen Siebzigern, die Zombies von damals kehrten, zeitgemäß beschleunigt und mit neuer Bedeutung versehen, aus den Gräbern zurück.
Gleichzeitig unterwanderten Regisseure wie Eli Roth die fragwürdige Lust am Torture Porn mit sarkastischen Botschaften, in dem sie den Kapitalismus als unersättliche Menschenfresser-Maschine denunzierten.
Warner Bros
Actionhelden mutierten in der Post-9/11-Ära schlagartig zu Antihelden. Vorbei die Zeit der stumpfen Testosteronklötze. Batman, Spider-Man, Iron Man & Co. kämpften nicht nur mit ihren Supergegnern, sondern auch mit Neurosen, Selbstzweifeln und Beziehungen.
Persönlich unvergesslichster Kinomoment der Nuller:
Scarlett Johansson und Bill Murray irren "Lost in Translation" durchs neonerleuchtete Tokio, landen als verlorene Touristenseelen in einer Karaoke-Bar, die Stimmung ist zunächst beschwipst und aufgekratzt. Aber als Scarlett zum Mikrofon greift, eine rosa Perücke auf dem Kopf, und charmant einen Lovesong intoniert, packt Bill die Sentimentalität. Während draußen das nächtliche Leben hektisch pulsiert, steht auch im Zuschauerraum kurz die Zeit still. Es geht um "More than this", um Sehnsucht und Seelenverwandtschaft, die zentralen Themen der schönsten Filme dieser Dekade.
Noch nie waren überlebensgroße Heroen so nahe dran an unserem eigenen, krisengebeutelten Alltag.
Sogar James Bond, die letzte Bastion des unantastbaren, eisigen Womanizers und in der Brosnan-Version das Sinnbild des Neunziger-Vakuums, schwitzte, litt und versagte jetzt wie du und ich. Nur Rambo irrte noch verloren um sich ballernd durch den Urwald.
Während die starken Männer ihre Schwächen offen zeigten, übernahmen Frauen die heimliche Macht auf der Leinwand. Quentin Tarantino zeigte erstmals Gefühle und verwandelte mit "Kill Bill Vol. 1 & 2" die umwerfende Uma Thurman zu einer Ikone. Scarlett Johansson wurde mit "Lost in Translation" einen Augenblick lang zum Symbol urbaner Einsamkeit und strahlte dabei gleißend hell wie ein verlorener Stern.
Miramax
Verlorenheit, Melancholie, Verstörung, das sind Schlüsselbegriffe in all den genialen Streifen der Nuller, von "Mulholland Drive", "2046" bis "Punch-Drunk Love", von "Hundstage" über "Requiem" bis "Dancer in the Dark".
Und gleichzeitig wird, genauso wie im Pop, die Euphorie zum Zauberwort. Regisseure wie P.T. Anderson, Christopher Nolan oder Sofia Coppola wollen uns zum Weinen und Lachen bringen, in ein und derselben Szene.
Zum Heulen vor Freude ist auch der erfrischendste Kinotrend der Dekade. Die amerikanische Komödie, in den Neunzigern ein blankes Grauen, verwandelte sich in ein Wunderland des Wahnwitz. Typen wie Will Ferrell und Seth Rogen und ihr Übervater Judd Apatow stehen für saudumme und gleichzeitig hochintelligente, für derbe, heftige und warmherzige Filme zum Verlieben.
Sony Pictures
Der Übertrend des Jahrzehnts profitierte von all den genannten Entwicklungen. Auf einmal verwandelte sich der TV-Bildschirm zur neuen Leinwand. In Amerika und Großbritannien ließen sich Fernsehautoren, Regisseure und Produzenten von der Kreativität des Kinos anstecken.
TV-Serien wie "Six Feet Under", "Lost", "The Office (UK)", "Extras", "Carnivàle", "Californication" oder "Dexter", um nur wenige aufzuzählen, setzten nicht mehr auf hierzulande so beliebte, leicht goutierbare, in sich abgeschlossene Episodenhäppchen, die man im Hintergrund laufen lassen kann.
Stattdessen ging es nun um die epische, fortlaufende Erzählung, in der unsere latente emotionale, soziale, politische Verunsicherung nervenzerfetzend, komisch, romantisch aufgefangen wurde.
Diese Serien waren das wichtigste Popkulturgut überhaupt, süchtigmachende Unterhaltung einerseits, aber auch Ratgeber, Seelenbalsam, Therapie, Mutmacher. Ach ja, wenn es den Nullern damit endlich gelungen ist, den dummen Gegensatz von Kunst und Kommerz auszulöschen, dann können die nächsten zehn Jahre nur spannend werden.
HBO
Ein paar private Lieblingsfilme aus den Nullern:
Lost in Translation, Mulholland Drive, Kill Bill 1 & 2, Punch-Drunk Love, Hundstage, Irréversible, The Prestige, Låt den rätte komma in, Avatar, Anchorman, Dancer in the Dark, Before the Devil Knows You're Dead, There Will Be Blood, Eternal Sunshine of the Spotless Mind, Eastern Promises, Import Export, Requiem, The Dark Knight, Inglourious Basterds, No Country For Old Men, 2046, De battre mon coeur s'est arrêté, The Darjeeling Limited, The Limey, Audition, Requiem For A Dream, Hostel 2, Spiderman, Serenity, Little Miss Sunshine, Casino Royale, The Brown Bunny, Sympathy For Mr. Vengeance, Miami Vice, The Aviator, Talladega Nights - The Ballad Of Ricky Bobby, In 3 Tagen bist du tot 2, Das weiße Band, Un Prophete, Children of Men, Shaun Of The Dead...