Erstellt am: 28. 12. 2009 - 12:36 Uhr
Rewind '09: Das Kinojahr
Reality killed the videostar. Heuer hat die Videothek in meinem Haus zugesperrt. Blasierte Cineasten, die eventuell auf der äußeren Mariahilferstraße wohnen, werden den Verlust wohl kaum bemerken. Mir geht das spontane Flanieren durch Regale schundiger Horrorfilme, Actionmovies und Blockbuster aber schmerzhaft ab.
- Rewind 09: Die FM4 Jahresrückblicke
Dank dieses kleinen Ladens konnte ich ständig bequem nachholen, was ich im laufenden Kommerzkinobetrieb versäumt hatte. Und gleichzeitig viele dubiose Streifen auf gut Glück sichten, die nur direkt auf DVD erschienen waren.
Der andere Weg, für den sich wohl auch die überwiegende Klientel der Videothek entschieden haben dürfte, reizt mich weiterhin wenig. Eigensinnig verweigere ich mich dem illegalen Downloadrausch. Und kontaktiere nur im Falle diverser Serien-Suchtmittel befreundete Dealer.
Überhaupt steht trotz neu erworbenem Flachbildmonster weiterhin der abgedunkelte Kinosaal im Zentrum meiner anhaltenden Filmsucht. Dabei machen es einem die österreichischen Verleiher mit ihrer abstrusen Politik nicht leicht. Während ständig vernachlässigbarer Schrott auf den Startlisten auftaucht, werden viele herausragende Produktionen, von großen Genre-Ereignissen bis zu kleinen Arthouse-Juwelen, gar nicht mehr veröffentlicht.
Aber auch wenn ich mich im folgenden nur auf Filme beschränke, die 2009 tatsächlich in heimischen Kinos gelaufen sind - und DVD-Importe ebenso bewusst ignoriere wie Viennale-Aufführungen -, bleibt eine sensationelle Ausbeute übrig. Hereinspaziert zu einem furiosen Jahr der Knochenmänner, Komatrinker und Antichristen, der Nazikiller und Nachtmaare.
Warner Bros
Das Jahr der aufgestauten großen Gefühle
Dass ich mich in "Gran Torino" mühelos mit einem rabiaten, menschenfeindlichen Rentner identifizieren konnte, wirft eigentlich ein besonders schlechtes Licht auf mich. Aber der 79-jährige Clint Eastwood erfüllte seinen knurrenden Charakter mit mitreißender Renitenz.
Wie sich in diesem grantigem Alten immer mehr Negativität anstaut, bis er plötzlich eine späte Lektion in Herzenswärme lernt, das war spannender zu verfolgen als viele offensive Thriller.
Von beständig unterdrückten Emotionen handelte auch eines der unterschätzten Dramen 2009: Sam Mendes sperrte in "Revolutionary Road" die famose Kate Winslet mit dem immer überzeugenderen Leo DiCaprio in einer schmucken Familienidylle zusammen, die zur Ehehölle wird. Wir schreiben in dieser Richard-Yates-Verfilmung zwar das Jahr 1961, aber wie bei der überragenden TV-Serie "Mad Men" sind Ähnlichkeiten zu den reaktionären Facetten der Gegenwart nicht zufällig.
Auf ganz andere, entschieden weniger erstickende Weise köcheln die Gefühle im romantischsten Indie-Slacker-Movie heuer. Bis sich die Figuren in "Adventureland" wirklich annähern oder gar umarmen, vergeht viel Zeit, hören wir tolle Songs von Hüsker Dü oder The Cure, verfangen wir uns in den sehnsüchtigen Augen von Kristen Stewart. Für all das Warten belohnt Regisseur Greg Mottola aber mit dem feinfühligsten Teenagerportrait seit langem.
Miramax
Das Jahr des digitalen Realismus
Kann sich noch jemand an die Dogma-Bewegung erinnern? Die Handkamera-Revolution, die von einer Gruppe vorwiegend skandinavischer Filmemacher in den Neunzigern gestartet wurde, hat das Kino grundlegend verändert.
Und auf jeden nervigen, unmotivierten Wackelexzess kommen heute Werke, die mit der Digitalvideo-Form souverän umgehen und auf beklemmende Weise Authentizität suggerieren. Filme wie Kathryn Bigelows Bombenentschärfer-Thriller "The Hurt Locker", der den Irakkrieg eindringlicher einfängt als mit Botschaften überfrachtete Konkurrenzarbeiten.
Ganz dicht am zerstörten Antlitz der Hauptfigur, kongenial von Mickey Rourke im wahrsten Sinn des Wortes verkörpert, klebt die Kamera in "The Wrestler". Regisseur Darren Aronofsky, der sich zuvor in einer artifiziellen Sackgasse verirrt hatte, fand mit dem Ringer-Drama zu einer Klarheit des Ausdrucks, der seinen intensiven Inhalten extrem entgegenkommt.
Dank einer fesselnden Synthese aus einem historischen Stoff und digitalem Handkamera-Realismus unterlief "Public Enemies" die Konventionen des Genrekinos. Michael Mann hetzte Johnny Depp durch einen Gangsterfilm, der aussieht wie ein Youtube-Video aus den dreißiger Jahren. Eine irritierende und faszinierende Erfahrung.
filmladen
Das Jahr, in dem österreichischen Filme auf Suspense setzten
Dass heimische Regisseure nicht nur auf den Nerven des Publikums herumtanzen können, sondern diese auch zu kitzeln vermögen, bewies schon zur Jahreswende der klaustrophobe Horrorschocker "In 3 Tagen bist du tot 2".
Mit einer nicht ganz unähnlichen Mischung aus Düsternis und Dialekt, einem gespenstischen ländlichen Setting und ordentlich Blut und Beuschel begeisterte dann "Der Knochenmann" des bewährten Teams Haas, Hader und Murnberger. Zum sinistren Soundtrack der Sofa Surfers entfaltet sich etwas, was zu den ganz großen Raritäten zählt: ein kluger, gefühlvoller und vor allem hoch spannender heimischer Genrebeitrag.
Dass auch dem bereits mit sämtlichen künstlerischen Lorbeeren geadelten Michael Haneke ein Film gelingt, der seine bisherige zivilisationskritische Agenda fortsetzt und trotzdem einen Suspense-Sog entwickelt, war aber eine der Riesenüberraschungen 2009.
Man kann "Das weiße Band" im Sinn des Regisseurs als Warnung vor aufkeimendem Faschismus betrachten. Aber auch als ein filmisches Mysterium voller finsterer Kinderaugen, das sich in seinen schockierendsten Momenten mit dem Horrorfilm kurzschließt.
Dor Filmproduktion/Petro Domenigg FILMSTILLS.AT
Das Jahr, in dem computergenerierte Effekte erwachsen wurde
"Up!" hieß nicht nur einer der bislang schönsten Streifen der an umwerfenden Animationsfilmen reichen Geschichte des Pixar-Studios. Aufwärts ging es heuer auch für eine Technologie, die weite Strecken dieser Dekade terrorisierte.
Aufdringliche, peinliche, käsige und niemals überzeugend wirkende computergenerierte Effekte geistern seit Anfang der Nuller durch unzählige Hollywood-Produktionen. Plötzlich mussten aber sogar beinharte Skeptiker wie meine Wenigkeit eingestehen, dass sich da etwas verändert hatte. Statt faulem Festplatten-Zauber kreierten die Trickspezialisten auf einmal echte Magie.
Beispiel: "The Curious Case Of Benjamin Button". David Fincher gelingt eine zutiefst berührende Meditation über die Vergänglichkeit des Moments, nicht zuletzt dank virtuoser CGI-Techniken, die Brad Pitt mühelos vom alten Baby zum jungen Mann morphen lassen.
Oder "Where The Wild Things Are", noch so ein Tränen evozierendes, tiefgründiges, blitzgescheites Kunstkinomärchen, in dem die Computertricks mit analogen Old-School-Effekten verschmelzen und sich unsichtbar und nahtlos in den Film einfügen. Und sogar vom kontroversesten Film des Jahres, Lars von Triers "Antichrist", blieben letztlich, viel mehr als die zerrissene Geschichte, die Bilder übrig. Digitale, mit CGI aufgepimpte Visionen einer grausamen Schönheit.
Warner Bros
Das Jahr des intelligenten, fesselnden Science-Fiction-Kinos
Der Film, der den Durchbruch der Computereffekte aber auf allen Ebenen einleitet und dazu noch eine neue 3D-Ära, heißt natürlich "Avatar". Auf atemberaubende Weise wirbelt James Cameron mit seinem außerirdischen Öko-Epos zum Ausklang des Jahres noch einmal etliche Bestenlisten durcheinander.
Die betörende Erzählung rund um das blaue Na'vi-Volk, dem der irdische Kapitalismus die Lebensbereiche zerstört, steht auch für ein Genre, das nach etlichen verunglückten Weltraum-Ausflügen heuer ein triumphales Comeback feierte.
Vom Science-Fiction-Kino ist die Rede, von rohen Erstlingswerken wie "District 9", in dem Regisseur Neill Blomkamp die fehlende dramaturgische Stringenz mit einer innovativen Optik ausgleicht, die ihresgleichen sucht. Die Mixtur aus dem erwähnten Handkamera-Realismus und restlos überzeugenden CGI-Aliens sorgt für dystopische Schockmomente, gegen die Endzeit-Blockbuster wie "Knowing", "Terminator Salvation" oder "2012" arm aussehen.
Im Sektor massenkompatibles Multiplex-Spektakel mit Herz und Hirn siegte neben dem Überfilm "Avatar" eine uralte Pioniersaga mit frischen Gesichtern. JJ Abrams beamte in "Star Trek" das legendäre Raumschiff Enterprise in die Kino-Gegenwart. Und der TV-Wunderwuzzi ließ dermaßen viel Sentimentalität, Humor und Cleverness aufblitzen, dass sich seelenlose Marketingvehikel à la "Transformers 2" um so leichter verdrängen ließen.
UIP
Das Jahr der subversiven Komödien
Wenn sehr bald hier an dieser Stelle die Filmphänomene der Dekade verhandelt werden, dann führt kein Weg am angloamerikanischen Komödienwunder vorbei. 2009 war leider nur ein semigutes Jahr für das Team Apatow, der Chef selbst übernahm sich mit "Funny People" etwas. Wobei Adam Sandlers garstige Komikerfigur am Rande des Abgrunds dennoch zu den zentralen Charakteren heuer zählt.
Die essentielle Dosis Boshaftigkeit, um den schnöden Alltag zu überstehen, konnte man sich aber gleich in mehreren Comedys abholen.
In "Religulous" demontierte Giftspritze Bill Maher amüsant diverse Weltreligionen, "Brüno" dehnte die Grenzen des Mainstreamkinos in ausgesprochen deviante Richtungen. "The Hangover" führte den respektlosen Umgang mit Babys und Raubkatzen vor und verdient einen Ehrenpreis für die radikalste Visualisierung fataler Katerzustände.
Den Preis für die herrlichsten Hasstiraden bekommt eindeutig Woody Allen, der mit "Whatever Works" den definitiven Pflichtfilm für die Neigungsgruppe Weltekel geschaffen hat. Und als Bonus für alle Lebensmüden und Liebeskranken liefert der Regisseur auch noch Auswege aus der Verbitterung, die an Weisheit kaum zu übertreffen sind.
UIP
Das Jahr der Nazikiller und Blutsauger
Komödiantisch und zugleich gnadenlos ging es auch in dem Film zu, auf den sich das Feuilleton mit der Indie-Community und faszinierenderweise auch dem breiten Publikum einigen konnte.
Dank schauspielerischer Zugpferde wie Brad Pitt und geschickt geschürtem Hype gelang Quentin Tarantino mit seinem vielschichtigsten, gewagtesten Streifen sein größter Erfolg. "Inglourious Basterds", dieses Vergeltungsmärchen, Sprachexperiment, dieses ästhetische Manifest gehört neben "Avatar" zu den Filmen, die 2009 zurecht definierten.
Was ist dem noch hinzuzufügen? Vielleicht ein kleiner schwedischer Film, zu dem wohl nicht nur der Schreiber dieser Zeilen eine enge persönliche Bindung entwickelte. "Lat Den Rätte Komma In" lautet der Originaltitel, als "So finster die Nacht" lief er erst heuer mit Verspätung in heimischen Programmkinos.
Mit diesem melancholischen Meisterwerk um einen kleinen Buben und dessen vampiristische(n) Freund(in) lässt Regisseur Tomas Alfredson nicht nur die Blutsauger-Konkurrenz rund um "Twilight" leichenblass wirken.
Wie sein Kollege Spike Jonze taucht Anderson mit seiner schneeverwehten Außenseiterfabel ganz tief in die Geheimnisse der Kindheit ein, überschreitet die Grenzen von Kunst und Kommerz. Und dringt zur Essenz des Kinos vor.
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