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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

28. 10. 2009 - 16:51

Vlog #6: Am Rande des Wahnsinns

Béatrice Dalle besucht die Viennale. Ein Liebesbrief an alle Radikalen.

Ich muss heute mit dem Ende beginnen, mit dem Ende meines gestrigen Logbuchs, da ich meine, dass mich einige geschätzte Leserinnen und Leser falsch verstanden haben: es geht mir bei meinem Ruf nach mehr Primitivität (und das meine ich im besten denkbaren Sinne) nicht um einen Anti-Intellektualismus, nein, ganz und gar nicht. Denn mit bloßen Bauchreaktionen kommt man nicht durch. Dieser Zugang ist bereits im Ansatz falsch, wenn er davon ausgeht, dass sich im einzelnen Betrachter Herz und Hirn auseinander dividieren lassen würden. Meine Feststellung und mein – zugegeben – polemisch verfasstes Kommentar dazu, stützt sich auf mittlerweile jahrelange Erfahrung, ja auch im Diskutieren und Vermitteln von Filmen.

Nachtrag

Da ich mich jetzt kurz fassen möchte, will ich meine Beobachtungen so zusammen fassen: wenn ich (28, schwul, aus einem Arbeiterklasse-Elternhaus, aufgewachsen als eines von fünf Kindern in Tirol, nach Umzug nach Wien kurzzeitig Theaterwissenschaftsstudent), wenn also ich mich einem Film aussetze, dann ist all das obige und noch viel mehr mit mir im Saal, dann gibt es kein Trennen zwischen Herz und Hirn, Bauch und Kopf. Mein Erfahrungen, mein Inneres, meine Gedanken nehmen das auf, was auf der Leinwand vor sich geht und passiert: Ich reagiere darauf, während und nach der Vorführung.

All das, was in der Zeit, bis ich meinen Text dazu schreibe, in mir vorgeht, alle Gedanken und Assoziationen, die mir kommen, seien sie auch noch so verstiegen oder einfach, müssen raus: wenn ich während eines Films an Deleuze, Benjamin oder Adorno denke, bin das ich, und das wird man meinem finalen Text auch anmerken. Das Dilemma, auf das ich hinweisen wollte mit meinem letzten Eintrag ist eher das, dass viele Autoren, die zum Beispiel Deleuze (ich weiß, er ist schon überstrapaziert; die Verwendung seines Namens ist nur beispielhaft und dient Illustrationszwecken) nicht gelesen haben, sich in ihren Texten trotzdem auf ihn beziehen: weil sie ihre Gedanken aufwerten wollen, weil sie seinen Namen oder einen Verweis auf ihn in einem anderen Text zum selben Film gelesen haben. Womit wir wieder bei den künstlichen Hierarchien wären. Das habe ich auch mit "Ehrlichkeit" gemeint: eine Ehrlichkeit zuallererst sich selbst gegenüber. Ich bitte um Kenntnisnahme dieser Erläuterungen, da ich mich beleidigt fühle, wenn mich jemand in die Nähe einer anti-intellektuellen Haltung rückt. Danke.

Im Klub der Visionäre

Die diesjährige Viennale bietet ihrem Publikum heuer in ungewohnt hohem Maße die Gelegenheit, auf Tuchfühlung mit veritablen Renegaten, Wahnwitzigen des Kinos zu gehen. Mit Künstlern, die in ihren jeweiligen Filmen sich selbst, ungefiltert, sehr wohl aber inszeniert und verfremdet auf die Leinwand bringen. Es werden wohl nicht wenige gewesen sein, die gestern Abend nach der Österreich-Premiere von Patric Chihas Domaine der französischen Künstlerin Béatrice Dalle zum ersten Mal gegenüber gesessen sind. Ich sage "Künstlerin", da sie sich beim Publikumsgespräch effektiv von der Berufsbezeichnung "Schauspielerin" distanziert, ja, sie sogar als Beleidigung bezeichnet hat.

Frau

Robert Newald

Béatrice Dalle im Gartenbaukino

Wie kommt's? Die Dalle, die mit 16 Jahren in die Pariser Punkerszene eingetaucht ist, von der ein Foto veröffentlicht worden ist, woraufhin sie Regisseur Jean-Jacques Beneix für seinen Film "Betty Blue" verpflichtet hat, hat keine professionelle Ausbildung. Sie erarbeitet sich ihre Figuren weniger, als dass sie die Stoffe (nicht unähnlich etwa Tilda Swinton) mit ihren Künstlerkollegen erarbeitet. Ich darf nun behaupten, dass man diese Unmittelbarkeit der Dalle auf der Leinwand sieht, dass ich immer schon gefühlt habe, dass diese außergewöhnliche Frau nicht nur nicht spielt, sondern dass sie ihre Frauen bis zu einem gewissen Grad mit lebt. Wie ein Gast, wie ein Symbiont.

Frau, Blut

www.reverseshot.com

In Claire Denis' "Trouble Every Day"

All is full of Dalle

Das ist faszinierend und erschreckend gleichzeitig und tatsächlich eilt Béatrice Dalle ein schriller Ruf voraus: die Medien machen sie zur Femme Fatale, zur Männerfresserin, wo sie doch zwei zehnjährige Beziehungen hinter sich hat und gerade vier Jahre mit ihrem aktuellen Ehemann, der im Gefängnis sitzt, verheiratet ist. Die Dalle hat in ihren Erscheinungen immer eine Lebensechtheit, spielt Gefühle aus und Situationen durch, die in ihr angelegt sind. Eine Präsenz, das ist sie, auch als ich sie heute Mittag im Hilton zum Interview treffe. Sie ist gut gelaunt, ich liebe ihr Gesicht, ihren Körper, ihre Art zu reden, laut zu werden, über die Stränge zu schlagen. Ich weiß, woran ich bei ihr bin, meine Angst wandelt sich in Sympathie.

Beatrice Dalle

Senator Film

Als "La Femme" in "À l'intérieur"

Sie erzählt mir davon, dass sie nie Drehbücher liest, nur bei einem würde sie eine Ausnahme machen: Bruce LaBruce. Ich schreie auf, werfe meine Hände nach oben. Sie bemerkt, dass ich ihn kenne, lächelt, ist überrascht. Später erklärt sie mir ihre Bewunderung für Jörg Buttgereit (ich schreie wieder) und Abel Ferrara (mit dem sie schon gearbeitet hat; ich schreie wieder). Es wird alles so klar für mich. Ich trinke einen Schluck Wasser, lasse mir meine DVD von "À l’Intérieur" signieren (das musste sein!) und verlasse sie. Für immer? Ich hoffe nicht.

Achse des Wahnsinns

Die Personen, die Dalle erwähnt hat, die passen alle in dieselbe Ecke der Seins-Künstler. Ja, sie machen außergewöhnliche, exzentrische Filme. Nein, sie provozieren nicht über Gebühr, fühlen nur die Notwendigkeit zu schreien in einer Welt, in der jeder über alles diskutiert. Wer sich zum Kino hingezogen fühlt, der muss das Irrationale und Wahnsinnige, das Triebhafte und Unkontrollierbare mögen, wenn nicht sogar lieben. Auch Helmut Berger kann man in diese Gruppe einladen: heute Abend ist er in Peter Kerns (auch er ein Renegat: Liebesbekundung folgt später) Blutsfreundschaft zu sehen. Und ich will jedem anraten, diesen unschätzbar wichtigen und wertvollen Film zu sehen. Kinostart ist der 5. November.

Nazis

Viennale

Peter Kerns "Blutsfreundschaft" ist der wichtigste österreichische Film des Jahres
Mann, nackt, tätowiertes Kreuz

Viennale

Napoli Napoli Napoli

Ich selbst bin nicht unbedingt ein exzessiver Mensch: bin ich deshalb so süchtig nach diesen Persönlichkeiten? Irgendwie verkörpern sie mir einen Traum vom selbstbestimmten, anarchischen Leben. Und ja, da ist viel Romantik dabei. Wie gesagt: ein Traum. Ich habe Abel Ferrara vor zwei Jahren kennengelernt. Ich durfte ein Publikumsgespräch mit ihm moderieren zu seinem sehr persönlichen Hotel-Porträt Chelsea on the Rocks, das im Gegensatz zum Viennale-Film Napoli Napoli Napoli nie in Österreich zu sehe war. Ferrara kommt mir entgegen, er geht nicht, er stolpert, wankt, gestikuliert. Naturgewaltig durchaus, kaputt: auch irgendwie. Während seinem Aufenthalt beim Filmfestival von Sitges macht er sich viele Feinde: er stürmt in die Redaktion der Festivalzeitung und zerreißt die Exemplare vor der Chefredaktuerin, da sein Film nicht auf dem Titelblatt ist. Als er seinen Lebenswerk-Preis überreicht bekommt, beschimpft er Guy Ritchie, der auch im Auditorium hockt, und macht sich lächerlich über den britischen Regisseur. Seine Auszeichnung schenkt er später der Barfrau seines Hotels. Sie stellt die Trophäe zwischen die Whiskyflaschen auf dem verspiegelten Tresen – und ist stolz darauf. Mein Beruf ist es, ein Urteil zu fällen, eine Meinung zu haben. In Gegenwart von Ferrara, Dalle, Berger, Kern, LaBruce, Buttgereit löst sich dieser Zwang in mir: ihre bedingungslose Leidenschaft, ihr Talent, ihre kindische oder reife Anarchie machen mich zu einem Bewunderer.

Harmonysüchtig

Ich fühle mich gut: jetzt wo ich jedenfalls im Gartenbaukino regelmäßige Vitaminspritzen in Form von frischem Obst und Säften bekomme (Danke!), ist die Viennale eine Freundin, und nicht mehr Schlafräuberin. Ich bin energetisiert, so energetisiert, dass ich gestern Abend sogar noch Lust hatte, einen Film anzusehen, der nicht bei der Viennale gezeigt wird. Harmony Korine liebe ich seit Gummo, seinem Regiedebüt, mit dem er Ende der 90er-Jahre in die Mitte der Filmfestival-Maschine geprescht ist. Die USA nach der Postapokalypse, gesellschaftlich gesehen. Eine verarmte Vorortsiedlung, kaputte Jugendliche, die Auflösung der (Mit-)Menschlichkeit: alles und nichts geht auf in diesem Absurdia.

Bub, Badewanne

www.geekwear.biz

Harmony Korines "Gummo": im Hintergrund jener Schinken, der auf den Fliesen klebt und der für Werner Herzog voller poetischer Kraft ist

Werner Herzog (oh, er fehlt bei der obigen Auflistung) sieht den Film, liebt ihn, weil er ganz nah an seinem eigenen Universum angesiedelt ist: in Julien Donkey-boy übernimmt der deutsche Regisseur eine Rolle. Mit einer Gasmaske auf dem Gesicht tanzt er als despotisches Familienoberhaupt dem Wahnsinn entgegen. Die Vernunft ist die Unvernunft, die Welt ist auf den Kopf gestellt und vielleicht deshalb so echt. Korine wird drogenabhängig, bleibt selbstzerstörerisch: seine Welt ist die der Freaks, der Minstrel-Sänger, der Abgekarteten, der Sideshows. Für eine Verité-Groteske bezahlt er Passanten dafür, ihn zusammenzuschlagen. Bis er ins Krankenhaus eingeliefert wird. Kunst als Leben als Kunst. Der Exzess ist existanzialistisch. 2007 kehrt Korine, nüchtern, zurück: in Cannes läuft Mister Lonely: zum Bobby Vinton-Schlager fährt ein Michael Jackson-Double (Diego Luna) auf einem Miniatur-Motorrad durchs Bild. Minutenlang. In Zeitlupe. Der Ruhm zersetzt sich.

Michael Jackson

www.theimagist.com

"Mister Lonely" ist in Österreich leider nie zu sehen gewesen

Trash Humpers

Gestern bekomme ich Harmony Korines neuen Film überreicht, der vor wenigen Wochen in New York Premiere gefeiert hat. Ein freies Radikal: Korine und drei Freunde verkleiden sich als "alte Menschen", grausige Masken verstecken ihre wahren Gesichter. Sie sind die Trash Humpers, die ultimative Edition jener kaputten Familie, an der sich Korine bereits seit Jahren abarbeitet. Sein Film hat keine Erzählung mehr zu bieten, alles wird beliebig. Sätze, Worte, Handlungen. Die "Trash Humpers" vögeln Misttonnen und Astlöcher, wichsen Baumzweige, kacken vor Garagentore und machen auch sonst alles, um den leichten Hauch von Ordnung, der über jenem USA-Durchschnittsort liegt, an dem der Film guerilla-mäßig gedreht wurde, zu zerstören.

Mann, Puppe

www.reverseshot.com

Harmony Korines "Trash Humpers"

Es geht darum, das was ist, kaputt zu schlagen, bevor ein Neuaufbau beginnen kann. Ein kleines Kind schlägt minutenlang auf ein Puppengesicht ein – mit einem Hammer. Der Kameramann lacht schrill auf. "It’s like being inside a psychopath’s mind", schreibt mir ein australischer Freund via Facebook. Und er hat Recht. Vielleicht ist "Trash Humpers" der wichtigste Film des Jahres. Gedreht wurde er auf Zelluloid, dann überspielt auf eine abgenudelte VHS-Kassette, dann wieder ausgespielt; ob digital oder analog, das weiß ich im Moment leider nicht. Ich wollte den Film nur mal anreißen, hier an dieser Stelle. Damit sein Titel geläufig wird. Ich bete dafür, dass er irgendwann hier zu sehen sein wird. Béatrice Dalle würde er sicher gefallen.