Erstellt am: 27. 10. 2009 - 12:23 Uhr
Vlog #5: Die Kunst, nicht zu denken
Ich erinnere mich zurück. Es ist Mai 2009 und die Besucher der Filmfestspiele von Cannes sind in Aufregung, Verzückung, Ekstase ob Jacques Audiards Wettbewerbsbeitrag Un prophète. Um die Ecken höre ich Meisterwerk, eine Sensation und atemberaubend und ärgere mich, dass ich die Pressevorführung um 8:30 Uhr morgens verschlafen habe. Also versuche ich die Wiederholungsvorstellung zu besuchen, bin viel zu früh dort und doch schon zu spät. Eine monströse Schlange steht in der frühsommerlichen Hitze an, dampft voller Erwartung. Der Zerberos am Einlass blickt mich an und winkt ab: keine Chance, meint er und grinst. Wieder einmal haben mich die Franzosen erniedrigt.
Ich mag es ja, wenn ich darum kämpfen muss, einen Film sehen zu können. Mein ganzer Körper spannt sich an, das potenzielle Seherlebnis wird in meinem Hirn zu einem entfernt liegenden Glücksversprechen. Aber ich kann es schaffen, sagt der Proletarier in mir. Ich konsultiere meine Unterlagen, lese als Weltvertrieb für Audiards Film "Celluloid Dreams" heraus, besuche sie in ihrem ausladenden Cannes-Büro. Der junge Herr grinst schon wieder so, als ich ihn frage, ob ich noch eine Chance habe den Film zu sehen: Very unprobable. You know, it’s this year’s Cannes hype. Oh, I know.
Viennale
Und ich sehe ihn doch noch, schmuggle mich in ein kleines Kastenkino hinein, das eigentlich für so genannte "Buyer" bestimmt ist, also für Menschen, die im Auftrag von Unternehmen Filme einkaufen wie andere Lebensmittel. Zweieinhalb Stunden später bin ich verwirrt – und enttäuscht: "Un prophète" hatte mir nichts zu erzählen. Vor allem: ich habe kaum etwas gefühlt. Die ersten dreißig Minuten interessieren mich, ich mag die Texturen und Gesichter, knüpfe eine Verbindung zu Malik. Und dann: so viele Nebenrollen, die nur einmal durchs Bild gezogen werden und dann nicht mehr auftauchen. Ich bin verärgert: ich will erfahren, wie es diesem jungen Mann geht. Stattdessen bekomme ich nur Ideen mit Soße. Nicht einmal den Titel des Films verstehe ich: ja, es gibt diese "divine intervention" in der Zelle, aber was passiert damit, was passiert dann, was passiert überhaupt? Nicht einmal der großartige und von mir verehrte Niels Arestrup kann das noch retten.
Cannes
Diskurskrankheiten
Es geht mir (zu) oft so: dass ich mit meiner Meinung fast alleine da stehe. Ich mag Filme, die andere hassen. Ich hasse Filme, die andere lieben. Ich werde mich jetzt ein wenig aus dem Fenster lehnen und eine (ungültige) Verallgemeinerung wagen, weil "All generalizations are false!", aber: kann es sein, dass einem "Un prophète" erst dann gefällt und etwas vermittelt, wenn man während des Films die Geschichte und ihre Inszenierung bereits aufdröselt und dekonstruiert und einpasst in diverse Diskurse, in den vom multiethnischen Frankreich der Gegenwart und der daraus resultierenden Probleme, in den von der Angst vor anderen Kulturen und vor allem Religionen? Ich bin offen für jedes Argument, nur habe ich noch kein schlüssiges gehört, welches mich befriedigen würde. Keiner konnte mir erklären, wieso er "Un prophète" so gut fand.
Stadtkino Wien
Ohne jemandem zu nahe treten und seine Meinung gering schätzen zu wollen, muss ich ganz kurz hinweisen auf die unsympathischen Dynamiken innerhalb von Filmfestivals: dass nämlich Filme wie Audiards "prophète" oder Jessica Hausners Lourdes so wohlwollend besprochen werden, kann auch damit zusammen hängen, dass sie vorgeblich wichtige Geschichten zu erzählen haben. Sind die ersten Meinungen nach den Weltpremieren veröffentlicht, formiert sich schnell ein beunruhigender Kult um solche Filme. Leute warten darauf, was ja schon mal gut ist. Sie lesen darüber, was auch nicht schlecht ist. Aber dann, dann geht’s ums Fühlen, und um Ehrlichkeit. Ich kann durchaus verstehen, dass Audiards Film einigen gefällt. Aber in Cannes war das kein Gefallen mehr, es waren keine Meinungen, es war ein Bekenntnis, eine Faszination, ein Hype. Der dann oft nichts mehr mit der Seherfahrung, mit dem Gefühl während des Films zu tun hat.
Ich weiß etwas, was du nicht weißt ...
Ein Grund dafür ist unter anderem, dass Filmfestivals wie alle anderen unternehmerisch strukturierten Organisationen auch dazu tendieren, in das Kino und damit die demokratischste aller künstlerischen Ausdrucksformen, die per se keine Zugangsschwellen und/oder –beschränkungen kennt, künstliche Hierarchien einzuführen. Es ist ein obszönes Spiel mit der "Cinema Literacy", die da betrieben wird. Denn wenn ich einen rundum geschätzten, komplex inszenierten Film einfach nicht mag, da er mir nichts gibt, da er nicht zu mir spricht, laufe ich Gefahr von den erleuchteten Kollegen als "nicht ganz so intelligent" gesehen zu werden. Wie oft höre ich beim Rausgehen aus dem Gartenbaukino den Satz: Schon interessant, aber ich habe ihn nicht verstanden. Ich würde diese armen Seelen am liebsten rütteln. Wenn einem ein Film nichts gibt, wenn man außen vor bleibt, aus welchen Gründen auch immer, dann ist es für mich ein nutzloser Film. Punktum. Es geht hier nur um Ehrlichkeit – und um eine neue, alte Primitivität beim Filmschauen.
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Ich hasse die Godarditis und den Deleuze-Ausschlag, das Bemühen unzähliger unzweifelhaft intelligenter Zeitgenossinnen und –genossen, das Urkräftige das Kinos, das ja gerade deshalb so schön ist, weil es einen zurückwirft auf ein ganz primitives Sein im Dunkeln, so zu verbegrifflichen, dass es nur mehr diejenigen dechiffrieren können, die dieselben Bücher gelesen haben. Ein elitärer Dünkel regiert das Reden, Schreiben, Fühlen und Denken. Und damit möchte ich der Filmtheorie nicht die Hypothesen und Diskurse schlecht reden: die Wissenschaftler leisten wichtige Arbeit, nur sollte das eben nicht den Einzelnen beim Wahrnehmen von Filmen anleiten und beeinflussen. Alles und nichts kann man in Bezug zur Kracauer, Deleuze oder Bazin setzen, wenn man nur will. Was aber viel wertvoller ist, ist das zu formulieren, was man in den zwei Stunden im Kino erlebt hat.
Denn man liefert sich aus, ist unterwürfig. Man schenkt seinen Körper und Geist für zwei oder mehr Stunden her, erlaubt einer künstlerischen Arbeit in einen einzudringen. Ich weine, lache, schreie, habe gefährliche, verbotene, geile Gefühle. Eben das muss kommuniziert werden. Denn, die reine Information hat heutzutage keinen Wert mehr. Ich kann jeden beliebigen Menschen mit ein wenig schreiberischem Talent vor einen Computer setzen und bitten, mir einen Text zu Claude Chabrol zu schreiben. Die Person muss noch nicht einmal einen Film dieses oder eines anderen Regisseurs gesehen haben, findet in Internet-Enzyklopädien einen ausführlichen Lebenslauf, eine Erwähnung seiner Leitthemen, eine klare Überschau zu seinem Werk. Paraphrase, punktum. Schon wieder ein Experte. Wie unorthodox wäre es stattdessen, würde jemand der Chabrol zuvor noch nicht gekannt hat, einfach seine Gedanken zu sagen wir seinem neuesten Film aufschreiben. Klar, ungefiltert, ungeschönt, nur schön formuliert eben. Darin muss die Zukunft der Filmkritik, insgesamt die Perspektive eines Kommunizierens über das Kino liegen. Es muss sich öffnen nach allen Seiten hin und endlich, endlich die künstlichen, ekelhaften Standes-Dünkel abschaffen.
Jeder versteht das Kino
Dann stellt sich die Vielfalt von selbst ein – und die übertragenen Meinungen haben hoffentlich ein Ende. Dann wäre Audiards Film erst gar nicht zu so einem Phänomen geworden: sondern ernsthaft diskutiert worden. Was meiner Meinung nach bisher nicht passiert ist. Ich misstraue einem Film sofort, wenn mir jeder sagt, dass er gut ist. Die Vielzahl der Zugänge zu einem Film muss der Vielzahl der Persönlichkeiten entsprechen, also theoretisch fast unendlich sein. Denn ein homosexueller Mensch wird nicht die gleichen Gefühle dafür entwickeln wie ein heterosexueller Mensch, ein 20-jähriger sieht ihn anders als ein 25-jähriger, ein Armer ihn anders als ein reicher, ein dicker ihn anders als ein dünner.
In dieses unzweifelhaft komplexe Themenfeld fällt noch ein anderer Problembereich hinein, den ich heute nur anreißen will. Vielleicht komme ich in einem meiner anderen Texte noch darauf zu sprechen: nämlich die nach wie vor bestehende, von Institutionen zur Förderung des Kinos unterstützte Ungleichgewichtung zwischen dem, was man Autoren- und dem was man Genrekino nennt. Ich muss nicht erwähnen, dass jedwede begriffliche Auseinanderdifferenzierung zwischen Auteur- und Maschinenfilm dieser Kunstform ohnehin nicht steht. Es ist unfair, vereinfachend und schlicht und ergreifend dumm. Blickt man sich in der Wiener Kinolandschaft um, dann weiß man, worauf ich hinaus will: das Kino, das sich von selbst in einen bestehenden Diskurs einfügt, das seinen Sehern vielleicht wenig zum Fühlen, sicher aber viel zum Denken gibt, ist immer noch der Primat in der filmkulturellen Landschaft Wiens und mitverantwortlich für die Malaise des Genrekinos.
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Unschuld
Ich stehe an der Bar, plaudere fröhlich und dann kommt der übliche Filmkritiker-Smalltalk über Godards Wirkkraft, Erbe oder Ähnliches. Ich drehe mich zuerst noch verschämt weg, da ich zwar einige Filme des französischen Regisseurs kenne, ein paar davon sogar gut finde, aber seinen Status als heilige Kuh des Kinos einfach nur lachhaft finde. Große Augen. Sie sehen mich ungläubig an. Wollen sagen: du bist intelligent, hast interessante Zugänge, und dann magst du Godard nicht? Ja, er geht mir am Arsch vorbei. Klappe offen. Aha.
www.horrordirectors.com
Versuchen wir mal die Gegenfrage.
Was ist dein Lieblingsfilm von Mario Bava? werfe ich in den Raum.
Ah, ist das nicht der Italiener?
Genau, sage ich. Vielleicht der wichtigste Regisseur des fantastischen Kinos des 20. Jahrhunderts, füge ich an.
Leider noch nichts gesehen von ihm, höre ich. Aber schon sehr interessant, geht’s weiter.
Und dann: Aber Le mépris gefällt dir schon, oder?
Vielleicht sollte ich für meine persönliche Psychohygiene Godard einfach aus meiner Erinnerung löschen und bei der nächsten, allfälligen Konversation, die schnurstracks auf den Franzosen zugeht, einwerfen:
Godard? Ah, das ist der Franzose, oder? Kenn ich leider noch nichts, aber ja, sehr interessant.