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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

28. 10. 2009 - 16:00

Der schmerzende Blick

Regisseur José Padilha macht Dokumentar- und Spielfilme über Brasilien. Sein jüngster Film "Garapa" ist bei der Viennale zu sehen.

José Padilhas Filme zeigen, wie Gewalt und Leid sich konzentrisch ausbreiten, wenn Staat und Zivilgesellschaft an neuralgischen Punkten versagen. Keiner seiner Filme ist in Österreich regulär im Kino gelaufen, obwohl "Tropa de Elite" ("Eliteeinheit") 2008 in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Eine kurze Einführung in sein Schaffen und ein Kinotipp.

Onibus 174

Padilhas erster Film, der sich mit dem Kreislauf der Gewalt in Rio und der Rolle der Polizei auseinadersetzt ist "Onibus174". Der Dokumentarfilm erzählt von der Entführung eines Autobus und der Geiselnahme von Passagieren durch einen geistig verwirrten Täter, Sandro Nascimento. Padilha erzählt nicht nur die Geschichte der Geiselnahme, die live im Fernsehen zu sehen war. Er fragt nach der Geschichte des Täters, wie oft dieser selbst Opfer war, bevor er - im Glauben, er sei vom Teufel besessen - einen Autobus entführte.

onibus 174

Sandro Nascimento war acht Jahre alt, als seine Mutter vor seinem Augen erschossen wurde. Als Straßenkind überlebte er 1993 das Massaker von Candelaria: Eine Gruppe von 50 bis 60 obdachlosen Kindern übernachtete regelmäßig auf den Stufen und dem Vorplatz der Candelaria Kirche im Zentrum Rios. Sie wurden dort mit Nahrung versorgt und waren in der Gruppe und durch die Nähe der Kirche geschützt. In der Nacht des 23. Juli 1993 fuhren Polizisten vor und eröffneten aus ihren Autos das Feuer auf die schlafenden Kinder. Das Motiv liegt bis heute im Dunkeln.

Sein weiteres Leben verbrachte Sandro Nascimento auf der Straße oder im Gefängnis. Während der Bus-Entführung nahm er mehrmals auf das Massaker bezug, kommunizierte mit Polizei und Medien. Die Polizei beendete die Entführung vor laufenden Fernsehkameras, indem sie auf Nascimento, der mit einer Geisel den Autobus verlassen hatte, schoss. Die Geisel starb, Nascimento wurde lebend in ein Polizeiauto verfrachtet, wo er erstickte. Die Polizisten, die Nascimento festnahmen und in deren Gewahrsam er starb, wurden wegen Mordes vor Gericht gestellt und freigesprochen.

Tropa de Elite

Der Anti-Held von Jose Padilhas bekanntesten Film - "Tropa de Elite" - trägt ebenfalls den Nachnahmen Nascimento. Er ist Polizist und bei der BOPE (Batalhão de Operações Policiais Especiais), einer Spezialeinheit der Polizei von Rio de Janeiro.
Ihre Aufgabe ist die Bekämpfung von Waffen- und Drogenhandel. Die BOPE sieht sich im Kriegszustand mit den Drogenhändlern. Kritiker werfen der BOPE vor, den rechtsstaalichen Rahmen zu verlassen und ihre Aufgabe als Bekämpfung der Bewohnerinnen der Favela misszuverstehen.

bope

"Ein Polizist in Rio verdient 400 Dollar im Monat, ist schlecht ausgebildet und muss sich als Vertreter einer korrupten Institution mit brutalen Kriminellen herumschlagen. Wie verhält sich ein Polizist, wenn das die Regeln des Spiels sind?", diese Frage ist laut Regisseur der Ausgansgpunkt des Films. In "Tropa de Elite" gibt es Szenen, in denen Captain Nascimento Bewohner der Favela foltert. "Tropa de Elite" zeigt auch die Entwicklung eines Mitglieds der BOPE vom motivierten, an soziale Veränderung glaubenden, jungen Polizisten hin zu einem von Gewalt korrumpierten und desillusionierten Mörder.

Wer "Tropa de Elite" nicht als Kritik an Strukturen, sondern als Actionfilm sieht, verlässt angewidert den Kinosaal. Von mehreren Seiten kam Kritik an Padilhas Film. Ihm wurde vorgeworfen, Polizeigewalt entschuldigen, der Film wurde als Aufruf gesehen, Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen.
Andererseits versuchte auch die BOPE selbst das Anlaufen von "Tropa de Elite" zu verhindern: "Zwölf Vertreter der Spezialeinheit BOPE reichten Klagen ein, um den Kinostart zu verhindern und um uns zu zwingen, Szenen aus dem Film zu schneiden, in denen Polizisten töten und foltern", erzählt Padilha in einem Interview in der SZ.

Einer brasilianischen Tageszeitung erzählte Padilha eine erschreckende und bizarre Anekdote von den Dreharbeiten in den Favelas. Er und sein Team drehten eine Folterszene, einem Schauspieler wurde gerade von den Darstellern der BOPE Polizisten ein Plastiksack über den Kopf gestülpt, um an Informationen zu kommen. Während das Team drehte, kam die wirkliche BOPE an und beobachtete die Szene.
Nachdem abgedreht war, sprachen die Polizisten das Team an und kritisierten, dass die Schauspieler volkommen falsch die "Interrogation" durchführten und erklärten, wie man Verdächtige richtig mit Hilfe von Plastisäcken befragt, ohne Spuren zu hinterlassen.

trope de elite

"Garapa" ist im Rahmen der Viennale am 29 Oktober 2009 im Metro Kino zu sehen.

Garapa

Leid und Hunger im Nordosten Brasiliens hat eine lange Geschichte: Kolonialismus, Sklaverei und Ausplünderung der Ressourcen durch die eigenen gesellschaftlichen Eliten. Seit den 1950er Jahren gibt es die Forderung nach einer Landreform, aber bis heute besitzt ein Prozent der Bevölkerung fast 46 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.

Nur 4.000 Großgrundbesitzern gehören knapp die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche Brasiliens. Ein Großteil dieser 4.000 Großgrundbestitzer wohnt wahrscheinlich in Leblon, einem Stadteil von Rio de Janeiro, oder hat dort zumindest ein Appartement. Leblon ist die teuerste Wohngegend Lateinamerikas, und genau dort ließ José Padilha im Juni diesen Jahres die überdimensionalen Plakate für seinen Film "Garapa" aufhängen.

natalie brunner

Garapa ist ein Getränk aus Zucker und Wasser, das oft verschmutzt ist. Garapa ist der portugiesische Name für ein Getränk, das weltweit von hungernden Familien als Substitution für Nahrung verwendet wird.
José Padilha meint in Interviews, dass er einen emotionalen, anti-intellektuellen Film gemacht hat. Es geht ihm nicht darum, die historischen, politischen und wirtschaftlichen Gründe für Hunger zu zeigen. Es geht um Emphase. Padilha will ZuseherInnen möglichst nah zu dem Punkt bringen, an dem wir uns vorstellen können, was es bedeutet zu hungern und die eigene Familie hungern zu sehen.

José Padilha drehte, ohne vorherige Recherchen, mit einem Team von vier Personen im Nordosten von Brasilien. Die Familien wurden ihm von Hilfsorganisationen vorgestellt. Die Dreharbeiten dauerten 45 Tage, so, dass er den Monatsablauf jeder der Familie filmen konnte.

garapa

In europäischen Medien ist zu lesen, dass Padilha und seine Crew den Alltag der Familien einen Monat miterlebt haben. Das stimmt so nicht ganz. Padilha erzählt, dass das schwierigste an "Garapa" war, jeden Morgen nach dem Frühstück zu den Familien zu fahren und nach Beendigung des Drehtags Abendessen zu gehen. Eine grausame Arbeitsweise, dem Thema angebracht, so Padilha. Der Film ist die Abbildung eines Zustands, der sich nicht ändern wird. Für die porträtierten Familien ändert "Garapa"allerdings schon etwas. Es ist ihr Film, so Padilha. In welcher Form sich seine Produktionsfirma der Menschen annimmt, darüber spricht er nicht. Es ist eine kleine Privatangelegenheit, die nichts an dem strukturell bedingten Leid nichts ändert.