Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Die neue Eiszeit"

Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

17. 10. 2009 - 10:03

Die neue Eiszeit

Was kommt dabei heraus, wenn man Astrid Lindgren, Nazis und eine Punk-Hackerin in den Mixer wirft? Richtig: Verblendung

Vorab: ich habe das Buch, das diesem Film zugrunde liegt, nicht gelesen. Aber meine werte Kollegin Claudia Czesch hat, und hat ihre Gedanken dazu hier nieder geschrieben. Dieser Umstand verunmöglicht es mir jetzt freilich Querbezüge zwischen Buch und Kinofilm herzustellen: das ist gut so, denn die ewigen Vergleichsanalysen und enttäuschten Stimmen von Lesern, die auf der Leinwand nicht mehr das wieder gefunden haben, was sie auf den Seiten, reingekuschelt in die Gammel-Couch, so fasziniert hat, vermitteln nichts. "Du sollst nicht Äpfeln mit Birnen vergleichen!" hat mir Muttern früher immer eingetrichtert. Insofern ist auch davon Abstand zu nehmen, ein sehr erfolgreiches Buch gegen seine Film-Adaption auszuspielen.

Tabula Rasa ist der Zauberbegriff und ich fange von ganz vorne an: "Millennium" war für mich bis vor wenigen Monaten eine mittelgute, aber immerhin konsequent düster inszenierte Serie von "Akte X"-Macher Chris Carter und besetzt mit Lance Henriksen als Ermittler mit übernatürlichen Fähigkeiten. Dann sagt eine gute Freundin bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes plötzlich zu mir: Wahnsinn! Millennium kommt ins Kino! Ich erschaudere kurz ob des Gedankens und denke an die Erinnerungsschändung, die durch die beiden "Akte X" – Kinoableger in meinem Hirn angerichtet wurde. Erst später weiß ich wirklich worum es geht, wonach jeder Freund skandinavischer Krimiliteratur (ich zähle mich nicht dazu) schon lechzt: die Verfilmung einer Roman-Trilogie des vor fünf Jahren verstorbenen Autors, Journalisten und politischen Aktivisten Stieg Larsson.

Filmplakat

Polyfilm

Der Film

Die Charaktere in "Verblendung" sind mir auf Anhieb sympathisch: Lisbeth Salander, energetisch gespielt von Noomi Rapace, ist eine versierte Computer-Hackerin, tätowiert, gepierct und kann Kickboxen. Mikael Blomkvist (Autor Larsson streut immer wieder Krümelspuren aus, die zu seinen Einflussgrößen führen: in diesem Fall erinnert man sich an Kalle Blomquist und damit an eine der berühmtesten Figuren Astrid Lindgrens) ist ein Aufdeckungsjournalist, der gerade seine Anklage gegen einen finsteren Korporatisten vor Gericht verloren hat. Er ist promisk, jähzornig, unnachgiebig. Keine perfekten Figuren eben: in ihnen schimmert die Ambivalenz und damit die Menschlichkeit. Viel Platz für Gefühl bleibt in "Verblendung" allerdings ohnehin nicht.

junge Frau

Yellowbird

Lisbeth Salander (Noomi Rapace) ist hasserfüllt
Mann, Kameras

Polyfilm

Mikael Blomkvist (Michael Nyqvist) ist hasserfüllt

All is full of hate

Dem Artikel von Kollegin Czesch entnehme ich, dass dem Roman sogar ein Stammbaum jenes Familienclans beigelegt wurde, der im Zentrum von "Verblendung" steht. Henrik Vanger kontaktiert Mikael Blomkvist, um das Geheimnis seiner vor vielen Jahren verschwundenen Nichte Harriet endlich aufzuklären. Gemeinsam mit Lisbeth taucht der Ermittler immer tiefer in die Familiengeschichte der Vangers ein und stellt schnell Verbindungen zu anderen Mädchen her, die damals verschwunden sind. Irgendwo in dieser Welt aus Schnee, Eis und Gefühlskälte haust ein menschliches Biest, unbemerkt von der Öffentlichkeit. Und wenn es sich in die Enge getrieben fühlt, beißt es zu.

Punk, Frau

Polyfilm

Die im Film aufgeworfenen Themen sind so reichhaltig und interessant, dass es beinahe unmöglich anmutet, daraus keinen spannenden Thriller zu bauen. Niels Arden Oplev, der vor "Verblendung" vorwiegend für das schwedische Fernsehen gearbeitet hat, ist genau das gelungen. Im Bemühen so viele der ausschweifenden Handlungsstränge wie möglich vom Buch in den Film zu überführen, überfordert er das Publikum mit einer Vielzahl von weg geworfenen Nebenfiguren, die, und das ist das eigentlich Enttäuschende, von der Dynamik zwischen Lisbeth und Mikael, den beiden Grenzwandlern, ablenken. Immer wenn diese Figuren Zeit haben, zu agieren und sich zu entfalten, fasziniert "Verblendung": Lisbeth, die ihren rechtlichen Vormund, der sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit sexuell missbraucht, in einer Rache-Aktion körperlich und physisch zerstört. Mikael, der von seinem Fall so beansprucht wird, dass er sich im Strudel aus sexuellen und politischen Perversionen aufzulösen droht.

Familie

Polyfilm

The House of the Devil: Familienaufstellung a la Vanger

Lisbeth Salander Superstar: Claudia Czesch über Stoeg Larsson und seine Romane

Es ist alles aufgelegt: "Verblendung" ist ein reichhaltiger Stoff über die Krankheiten der Gesellschaft. Und er stellt die richtigen und wichtigen Fragen: etwas wieso sich die Alt-Nazis aus der Vanger-Familie auf ihrem Anwesen unbekümmert entspannen konnten, wieso sie nie für ihren Verbrechen bestraft worden sind. Wieso die staatstragenden Systeme so leicht korrumpiert werden können, dass sie statt den Schwachen zu helfen, den Reichen Immunität verschaffen. Und: welche Rolle der Journalismus als Korrektiv (ja, sehr altmodisch) in dieser Konstellation zu spielen hat.

All das steckt in "Verblendung". Nichts davon sieht man im fertigen Film, der sich wie ein überfressener Fernsehfilm zweieinhalb Stunden lang Richtung Ende wälzt, dabei aber mehr auf drastische Effekte und Affekte und unspannende Spannungen setzt, als sich voll und ganz der schlauen systemischen Analyse und Interpretation des Stoffs anzuvertrauen.