Erstellt am: 5. 10. 2009 - 17:52 Uhr
Kann die Zukunft Geburtstag haben?
Wegweisende Electronica wie LFO, Barrierenbrecher wie Aphex Twin und Squarepusher, abstrakte Minimalisten wie Autechre, Hip Hop Neu- und Querdenker wie Flying Lotus, Anti Pop Consortium, Prefuse 73, Mathrocker wie die Battles, manische Utopisten wie Jackson, Alchemistinnen wie Leila, introspektive Folk-Misantropen wie Vincent Gallo, sie alle nennen Warp ihre Heimat. Es könnten tausend Geschichten über die Welten, die auf Warp gebaut worden sind, erzählt werden. Von den Versuchen, Technologie, Design und Musik zu verbinden bis zu dem Zombie Ravefilm, der gerade in Produktion ist.
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Warp wurde vor 20 Jahren in der englischen Stadt Sheffield gegründet, seit dem Jahr 2000 ist der Labelsitz in London. Mit seinen Freunden Rob Mitchell und Robert Gordon gründete Steve Beckett das Label. Heute leitet er - nach Streit mit Robert Gordon und dem tragischen Krebstod von Rob Mitchell - das Label alleine. Als Beckett und Mitchell Warp gründeten, erklärten sie, dass der Name eine Abkürzung für "Weird And Radical Projects" ist. Das beschreibt die Labellinie auch 20 Jahre später noch sehr gut.
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Anlässlich des Jubiläums kommt Steve Beckett aus dem Interview geben gar nicht mehr heraus. In vielen der Fragen hört man das Erstaunen der Interviewer mitschwingen, dass das, was vor kurzem noch so sehr nach Zukunft und Sience Fiction geklungen hat, dieses Jahr 20jährigen Geburtstag feiert. Die beste Antwort auf die Frage, was der gemeinsame Nenner der Musik ist, die Warp im Laufe der letzten 20 Jahre veröffentlicht hat und wie heute die Zukunft klingt, gibt Steve Beckett über einen Umweg. Ein Journalist will von ihm wissen, warum junge Menschen vor zehn Jahren mit Laptop und Sampler in ihren Schlafzimmern an Musik gebastelt haben und es heute wahrscheinlich wieder eine Gitarre ist, mit der man sich im Schlafzimmer einschließt.
Nein, widerspricht ihm Beckett, es wäre wahrscheinlich eine Gitarre und ein Laptop, und weiter: "Ich glaube, dass wir einfach eine neue Stufe erreicht haben. Wir sind durch eine Phase gegangen, da sind Gitarren als alt und uninteressant abgetan worden. Jeder war von den neuen Technologien fasziniert von den unglaublichen Sounds, die man noch nie zuvor herstellen konnte. Und an einem gewissen Punkt war diese Entwicklung abgeschlossen. Jeder hatte schon alles an neuen revolutionären Sounds gehört. Ich denke, Aphex Twin und Squarepusher haben die Grenzen, was das Erzeugen von neuen Sounds angeht, ziemlich ausgelotet. Vor circa 15 Jahren waren die ZuhörerInnen so fasziniert von diesen neuen Sounds, dass Songstrukturen in den Hintergrund rückten. Aber heute, wo wir alle bereits alles gehört haben, verspüren wir wieder das Bedürfnis nach Songs, nach organischen persönlichen Dingen."
Eines der jüngsten Warp-Signings, das diesem Bedürfnis entgegen kommt, ist Grizzly Bear
Steve Beckett hat zu keinem Zeitpunkt Warp als Electronica-Label gesehen. Der Ausdruck ist ihm vor 15 Jahren schon auf die Nerven gegangen. "Ich interessiere mich für Individuen, die ausdrücken können, was einzigartig und speziell an ihnen ist. Artists werden Geräte zur elektronischen Klangerzeugung weiterverwenden, genauso wie Bandmaschinen oder Gitarren. Das Interessante ist nicht, was sie benützen, sondern wie sie es benützen."
Im Büro von Warp hängen Fotos der Künstler, gleich einer Ahnengalerie in schmucken Bilderrahmen, um zu verdeutlichen, dass es hier nicht um gesichtslosen Techno geht, sondern um Menschen, die all ihr Herzblut investiert haben.
Paul Smith, Sänger von Maximo Park, kann dem nur beipflichten. Für jedes andere Label wären sie ein Produkt gewesen. Bei Warp ist es eine Beziehung. Jede Platte, jeder Release ist kulturelles Neuland.
Warp feiert 20-jährigen Geburtstag mit einer CD Box Plus Buch, die einen repräsentative 20 Jahre Geschichte auf vier Tonträger bannen soll. Auf den zwei CDs Chosen haben User per Vote im Internet und Steve Beckett ihre 20 Lieblingsstücke kompiliert. Auf Recreated covern Warp Acts sich gegenseitig.
Einer der Parade-Wahnsinnigen, dessen Name auf immer mit Warp verbunden ist, ist Aphex Twin. Ein gegen alle Regeln revoltierendes Genie. Ein Mann, der Nummern nach Asthma-Medikamenten benennt, sie so klingen lässt, als hätte man eine Überdosis dieses Medikaments erwischt und zu Madonna sagt, er remixt sie nur, wenn sie vor ihm auf die Knie geht und er persönlich aufnehmen kann, wenn sie grunzt wie ein Schwein, wenn er nicht im Garten gerade mit seinem Panzer Runden dreht. Vielleicht hätten nur wenige von ihm etwas gehört, hätte er nicht ein Label gefunden, das Kunst und Freiheit über das Kalkül stellt.
Krise der Musikindustrie hin oder her, für Warp Records war in finanzieller Hinsicht 2009 das erfolgreichste Jahr seit ihrem Bestehen. Bleep, der seit 2004 bestehende Download Store von Warp war richtungsweisend. Designers Republic, die auch für viele Warp Plattencover und die optische Identität des Labels zuständig waren, bastelten ein sehr schönes Interface. Inzwischen ist das Verhältnis von digitalen und Tonträgerverkäufen 60:40. Warp hat formal und inhaltlich alles richtig gemacht. Angst vor der Zukunft hat Steven Beckett nicht.