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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

20. 8. 2009 - 14:35

Die Traumschleuder

Neil Gaiman ist einer der besten Fantasyautoren der Welt: er ist der Vater von "Coraline", schickt Götter und Dämonen in den Krieg und macht Träume zu unserer Wirklichkeit.

Mit behaarten Wichteln und bebrillten Zauberschülern hat alles angefangen: mittlerweile ist die Popkultur angefüllt mit Geschichten und Kreaturen, die man vor wenigen Jahren nur in B-Filmen und Schundromanen angetroffen hätte. Jemand, der diesen Fantasy-Boom vorbereitet und zu einem gewissen Teil mitverantwortet hat, ist Neil Gaiman. Seit den Mittachtzigern schreibt er in seinen Texten Dämonen, Halbgötter und andere Gruselgestalten herbei. Viele Künstler und Kreative, darunter etwa Tori Amos, gehören zu seinen Fans, fühlen sich wohl in den Welten des blasshäutigen Briten. Gerade ist eine seiner Kreationen zu Besuch in den österreichischen Kinos: der Animationsfilm "Coraline" basiert auf Gaimans gleichnamigem, sehr empfehlenswertem Kinderbuch. Obwohl Kategorisierungen bei den mäandernden, spielerischen Welten von Neil Gaiman nicht wirklich greifen.

Coraline

UIP

Das Gothgirl Coraline im Kriechtunnel der Fantasie: noch weiß sie nicht, was sie auf der anderen Seite der Wirklichkeit erwartet.

Vielmehr hat der britische Autor und Vater von drei Kindern, der die Insel mittlerweile hinter sich gelassen hat und in den USA lebt, im Lauf der Jahre ein Gesamtwerk entwickelt: das ist zwar vielgestaltig in seiner Erzählhaltung, überraschend in seinen Handlungsfäden, ambitioniert in seinen Charakterzeichnungen, aber es teilt die Faszination für ein Thema. Dass nämlich nicht so sehr ein kleines Stück Andersartigkeit (sei es ein Dämon oder sonst etwas) in unsere Wirklichkeit eindringt, sondern dass es, und da ist Gaiman ganz nah dran an Poe, die Welt der Vernunft, die Ratio, immer wieder überwuchert und überwältigt wird von archaischen Mächten, historischen Figuren, von all jenem Fantastischen, dass, so kann man sagen, tief im Unterbewusstsein der Menschheit, dieses Planeten schlummert, aber immer da ist. Der britische Schriftsteller und Regisseur (Hellraiser) Clive Barker schreibt treffend:

He doesn't tell straightforward, read-it-and-forget-it-tales; he doesn't supply pat moral solutions. Instead he constructs stories like some demented cook might make a wedding cake, building layer upon layer, hiding all kinds of sweet and sour in the mix. The characters who populate these tales are long past questioning the plausibility of the outrages Mr. Gaiman visits upon normality. They were born into this maelstrom and know no other reality.

Comic

www.sequart.com

Ein Panel aus der letzten Geschichten des ersten Sandman-Sammelbands "Preludes & Nocturnes": links der "Schlaf", rechts seine Schwester "Tod"

Poe reloaded

Neil Gaiman ist ein geborener Geschichtenerzähler. Seine Texte sind zugänglich, aber unkonventionell. Sie überraschen, fesseln und kurbeln die Fantasie des Lesers an. Er ist ein Alter, der am Lagerfeuer seine Schauergeschichten erzählt, wie eine Großmutter, die ihren Enkeln Gute-Nacht-Märchen ins Ohr flüstert. Gaiman braucht die Reaktion seiner Leser: er will gelesen werden, will verzaubern. In allen seinen Arbeiten steckt der junge Neil, ein Sohn von wohlhabenden Eltern, der in den Sechzigern und Siebzigern in der britischen Kleinstadt East Grinstead aufwächst. Große Teile seiner Jugend verbringt er mit Büchern, liest Tolkien und Edgar Allen Poe, CS Lewis und HP Lovecraft. Immer wieder wird er sich später an diese Momente, Stunden, Tage erinnern - und ein Stück weit versuchen, diese Träume in seinen eigenen Arbeiten weiter zu träumen.

Zu Beginn seiner Karriere schreibt Neil Gaiman viel von allem: Reportagen, Buchkritiken, Kurzgeschichten und sogar eine Biografie der Band Duran Duran. 1985 lernt er Terry Pratchett kennen: einen Superstar der britischen Literaturszene, dessen ironische Fantasyromane weltweit Erfolg haben. Gemeinsam schreiben sie Good Omens (Ein gutes Omen: die freundlichen und zutreffenden Prophezeiungen der Hexe Agnes Spinner. Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1991) eine schwarzhumorige Gruselgeschichte über den Antichristen und die bevorstehende Apokalypse.

Buchcover

englishrealm.com

Neil Gaimans erstes Buch, verfasst mit Discworld-Gott Terry Pratchett, dessen Cover bereits die Hell/Dunkel-Symmetrien von Gaimans späteren Arbeiten aufgreift

Bring me your Dreams!

Das Buch erscheint 1990: zu einer Zeit, in der Gaiman schon mit seiner vielleicht berühmtesten Kreation beschäftigt ist: dem Sandman. Gaimans Graphic Novel kann immer noch als sein Opus Magnum bezeichnet werden. Auf über 2000 Seiten vermischen sich mythologische Wesen wie der "Schlaf" oder der "Tod" mit der Alltagswelt: der Zeichenstil ist dabei ebenso unberechenbar und anarchisch wie die Erzählung von Gaiman selbst. Wiewohl der Sandman von einer groben Story Arc zusammen gehalten wird, scheren viele der insgesamt 75 Episoden aus: mal zapft Gaiman die Ästhetik und den Panel-Aufbau der EC-Horror-Comics an, mal lässt er bekannte DC-Superhelden durch seinen Traumroman stapfen.

Kunst

LA Times Blogs

Eines von Dave McKeans großartigen Cover-Kunstwerken für den Sandman

Schon früh in seiner Karriere lernt er Alan Moore kennen, den sonderlichen und zurück gezogen lebenden Schöpfer etwa von Comic-Meilensteinen wie "Watchmen" oder "V for Vendetta": die beiden Herren verstehen sich prächtig. Moore gibt Gaiman sogar den Spitznamen scary trousers, da sich dieser zu Tode fürchtet, als der bärtige Moore bei einem gemeinsamen Abendessen von Serienkillern zu murmeln beginnt. Der "Sandman" wird zu einem Comic-Phänomen, Gaiman zum Zentralgestirn einer vibrierenden Fankultur.

Mann, Bart

dimpress

Alan Moore, vermutlich gewaltigster, anarchischster und intelligentester Comic-Innovator in der Geschichte der Kunstform

Willkommen im Niemalsland!

1996 erscheint sein erster Roman Neverwhere (deutsch: Niemalsland), basierend auf seinem eigenen Drehbuch für die gleichnamige, allerdings nur sechs Episoden umfassende BBC-Fernsehserie. Die Geschichte folgt einem grauen Angestellten, der eines Tages das Mädchen Door verletzt auf der Straße liegen sieht. Alle gehen vorbei, nur Richard Mayhew hilft ihr, bringt sie in seine Wohnung, pflegt sie gesund. Dieser Moment der Mitmenschlichkeit sprengt dann auch die Grenzen seiner Wahrnehmung: Door öffnet ihm die Türen in eine unterirdische Welt, die von Ratlords und Auftragskillern bevölkert wird. Viele seiner Hauptthemen finden sich darin: wie sich die Normalität mit dem Fantastischen verschränkt, dass es immer noch eine andere Welt hinter unserer Wirklichkeit gibt.

1999 folgt Stardust: zum ersten Mal in seiner Karriere verlässt Gaiman die Welt des Urban Gothic und wendet sich klassischer Fantasy zu, die allerdings mit seinen Leidenschaftsthemen durchsetzt ist. Erzählt wird von einem jungen Mann, der in der mittelalterlich organisierten Stadt "Wall" lebt und irgendwann den Titel gebenden Wall, der das Außen vom Innen abbindet, überwindet, sich in einem Feenreich wieder findet. 2007 entsteht unter der Supervision Gaimans eine Hollywood-Adaption des Buchs, unter anderem besetzt mit Michelle Pfeiffer und Robert De Niro; Tori Amos hat einen Cameo-Auftritt als Baum.

Frau

UIP

Fremde Welten, schöne Frauen: Michelle Pfeiffer in der Stardust-Verfilmung

Obwohl sich viele von Gaimans Arbeiten auf den ersten Blick einer Verfilmung verweigern, da sie zu sehr in ihrem jeweiligen Medium (sei es Buch oder Comic) verwurzelt sind, schaffen es überraschend viele davon auf die Leinwand. 2005 entsteht das surreale Traummärchen MirrorMask, das Gaiman gemeinsam mit seinem langjährigen Freund und Zeichner Dave McKean (der unter anderem die detailreichen Frontcovers zu den Sandman-Comics entworfen hat) schreibt. Wieder begleiten wir ein Mädchen, das - ganz ähnlich Coraline - aus ihrer tristen, traurigen Wirklichkeit in eine mythenumschleierte, von unglaublichen Kreaturen (etwa Stephen Fry als aus geometrischen Formen gebauter Bibliothekar) Anderswelt.

Puppen

Tartan

Leben im Puppenhaus: MirrorMask war für die große Leinwand gedacht, schafft es allerdings nie regulär in die Kinos und wird direkt auf DVD veröffentlicht

In allen Texten des britischen Autors, vor allem aber in "Sandman" wird das Unbewusste, das Archaische und Mythologische frei gelegt und mit dem Alltäglichen verschränkt: in seinem Roman American Gods (im Heyne-Verlag) bekriegen sich die alten und die neuen Götter, gebaut aus Medien, Celebrity-Kultur und dergleichen, mitten in den Vereinigten Staaten; im komischen Anansi Boys, der die Figur des Mr. Nancy aus American Gods weiter führt, findet ein junger Mann heraus, dass sein verstorbener Vater die Inkarnation eines afrikanischen Spinnengottes war.

Mann im Mantel

MHP Books

Herr Gaiman, schreiben Sie weiter. Bitte!

Neil Gaiman hat mit seinen Romanen, Comics und Kinderbüchern (aktuell: The Graveyard Book) die zeitgenössische Fantasy geprägt wie wenige andere: lange vor Harry Potter schreibt er mit Witz und Verve aus der Perspektive von Kindern, lange nach Tolkien lässt er die epische Fantasy wieder aufleben. Neil Gaiman hat eine Welt zwischen Altem und Neuem, zwischen Pop und Mythologie erschaffen: ein "Neverwhere" der Literatur.