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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

25. 5. 2009 - 18:40

Am Ende von Eden

Das Paradies hat zusammengepackt: Eine knappe Nachlese zu den 62. Filmfestspielen von Cannes

Ich beiße immer zuerst
Aus aktuellem Anlass lassen wir Ausschnitte aus dem Doppelzimmer Spezial mit Michael Haneke, der beim Filmfestival in Cannes gerade eine goldene Palme gewonnen hat, Revue passieren.
Zu hören in der Homebase (19-22)

Die Würfel sind gefallen: Ein Pasch für den österreichischen Film. Michael Hanekes Das weiße Band bekommt die Goldene Palme bei den Filmfestspielen von Cannes. Schon überschlagen sich die Offiziere unserer Republik mit Beglückwünschungen, reden sich die Superiorität der heimischen Filmproduktion herbei: Das ist wunderbar, allerdings werden sie – ich bin ein Prophet – auch jetzt nach der Goldenen Palme wieder darauf vergessen, konkrete realpolitische Entscheidungen – im Besonderen eine Aufstockung der Filmfördersummen – folgen zu lassen.

Mich persönlich freut die Auszeichnung für Haneke, also jenen österreichischen Regisseur, der die heimische Filmproduktion (1997 war sein "Funny Games" im Wettbewerb von Cannes zu sehen) international konkurrenzfähig und wahrnehmbar gemacht, sehr; meine Gedanken zu seinem Ensembledrama "Das weiße Band" habe ich bereits vor mehreren Tagen hier aufgeschrieben.

10jähriger Bub, Szenenbild aus Michael Hanekes "Das weiße Band"

Warner

Konzentrierter Dorf-Thriller von Michael Haneke: Das weiße Band ist der Siegerfilm der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes

Filme, die bleiben

Dennoch fände ich es beschämend, wenn aufgrund dieser erfreulichen Ereignisse für Österreich die anderen sehenswerten Filme der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes unter den Tisch fallen würden: Daher folgt hier eine kleine Aufstellung anderer Filme, die einen Preis verdient hätten; ganz egal ob sie dann auch einen bekommen haben oder nicht.

Taking Woodstock

Cannes

Ang Lees Drogentraum vom Woodstock-Festival

Taking Woodstock
Ang Lee erzählt die Geschichte des legendären Musikfestivals aus der Perspektive eines jugendlichen Dörflers aus Bethel/Washington, der die Woodstock-Organisatoren zuerst durch sein unternehmerisches Talent anlockt, dann zwischen tanzenden Blumenkindern und nackten Laientheaterschauspielern sein persönliches Coming of Age erlebt. Gelassen, entspannt.

Kinatay
Einer der schwächeren Filme des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza (jetzt ausgezeichnet mit den Regiepreis in Cannes): Ein junger, idealistischer Polizeischüler begleitet seine Oberen auf einer Streife. Gemeinsam entführen, misshandeln, töten und zerstückeln sie eine Prostituierte, die nicht spurt, die nicht zahlt. Vulgäres, brachiales, poetisches Wackelkamerakino über the loss of innocence.

Bald ist alles vorbei: in Brillante Mendozas grimmigem Zivilisationsthriller Kinatay wird einer Prostituierte entführt, gefoltert und ermordet. Regiepreis in Cannes

Festival de Cannes

Bald ist alles vorbei: in Brillante Mendozas grimmigem Zivilisationsthriller "Kinatay" wird einer Prostituierte entführt, gefoltert und ermordet. Regiepreis in Cannes

Vengeance
Hong Kong-Genrerevoluzzer Johnnie To inszeniert den französischen Barden Johnny Hallyday in Trenchcoat und Schlapphut als stoischen Rächer mit einer Silberkugel im Kopf, aufgrund der er immer wieder vergisst, wieso er mit drei Hitmen unterwegs ist. Auf den Punkt gebrachtes, ästhetisch umwerfendes, rhythmisiertes Bewegungskino irgendwo zwischen Sam Peckinpah und Vincente Minnelli. Ein heimliches Hauptwerk dieses Kinojahres.

Mann, Rache

Festival de Cannes

Virtuos inszenierte Rachegeschichte von Johnnie To: "Vengeance"

Vincere
Die Geschichte der geheimen Liebe zwischen "Il Duce" Benito Mussolini und Ida Dassler als optisch virtuoses, angemessen größenwahnsinniges Spiel mit Symbolen und Rhythmen. Eine quintessenzielle Arbeit zum Faschismus und seinen eigenen wie fremden Inszenierungen: Eine der besten Arbeiten des italienischen, hierzulande leider noch so gut wie unbekannten Mavericks Marco Bellocchio

Benito Mussolini

Festival du Cannes

Eine Liebe im Faschismus als bildgewaltige Oper: Opulentes Kino von Marco Bellocchio

Les Herbes Folles
Der 87-jährige Franzose Alain Resnais (Hiroshima, Mon Amour) inszeniert ein surrealistisch angehauchtes Liebesspiel mit sicherer Hand; wurde dafür jetzt in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury geehrt.

Air Doll
Hirokazu Koreeda, einer der besten Regisseure des japanischen Gegenwartskinos, erzählt Pinocchio-gleich vom Erwachen einer Gummipuppe, die dann durch eine seelen- und gefühlslose Metropole wandert. Ein großes Märchen.

Sexpuppe

Festival de Cannes

Pinocchio á la japponaise: Eine Sexpuppe erwacht zum Leben

Mother
Der psychisch herausgeforderte Sohn einer Kräuterheilerin wird für den Mord an einer Gleichaltrigen hinter Gitter gebracht. Die resolute Frau, verkörpert von der südkoreanischen Fernsehgöttin Kim Hye-Ja, untergräbt konventionelle Frauenbilder des asiatischen Landes, ist überzeugt von der Unschuld ihres Filius und versucht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, ihn aus dem Gefängnis zu holen. "The Host"-Regisseur Bong Joon-ho schaltet einen Gang zurück, präsentiert hier ein hintersinniges Krimimelodram voller Weisheit und Einsicht in die Funktionsweisen der südkoreanischen Gesellschaft.

Ne Te Retourne Pas
Ein Körpermelodram, merklich beeinflusst von Cronenberg und Lynch: Boy- und Girlcrush Sophie Marceau spielt eine erfolglose Schriftstellerin, deren vertraute Umgebung sich plötzlich zu verändern beginnt: Tische stehen woanders, ihr Gesicht scheint sich zu verformen. Die französische Regisseurin Marina de Van (Dans ma peau) inszeniert mit klassizistischer Kraft und Unnachgiebigkeit, ihr Film ist ein Psychothriller voll traumwandlerisch schöner Bilder, voll dunkler Abgründe.

Like You Know It All
Der koreanische Regisseur Hong Sang-soo inszeniert einen koreanischen Regisseur in der Sinnkrise: Gefangen im Programmkinopfuhl versucht er sich neu zu orientieren, akzeptiert die Einladung eines obskuren Filmfestivals, arbeitet dort in der Jury. Hong, dessen Filme immer von der Schwere der Leichtigkeit gezeichnet sind, zeigt die schwerelose, augenzwinkernde Variante des sogenannten postmodernen Kinos. Wundervoll.

Le Roi de l’évasion
Ein 43-jähriger Traktorenverkäufer aus der französischen Provinz, der sich zum Sex mit Männern in die Anonymität von Autobahnparkplätzen flüchtet, lernt die Teenagerin Curly kennen und lieben. Alain Guiraudie inszeniert eine flockige, sehr schräge Komödie um Lebenslügen und Lebensträume, getragen von hervorragenden Schauspielern.

Cannes 2009 war vielleicht kein Sensationsjahrgang: Das Festival an der Croisette hält den Kopf aber beständig über Wasser. Ich freue mich auf ein Wiedersehen 2010!