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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

22. 5. 2009 - 17:32

Krieg unter Palmen

Skalpierte Nazis, Dämonen, Diktatoren und der neue Film von Michael Haneke: die Filmfestspiele von Cannes gehen zu Ende

Jetzt hab ich den neuen Film von Gaspar Noé versäumt, muss mir von Kollegen berichten lassen, ob der französische Bilderwerfer, der die Croisette vor sieben Jahren mit dem hyper-stilisierten, brutalen Irréversible verstört hat, mit seinem psychedelischen Tokio-Trip Enter the Void ein großer Wurf gelungen ist.

Drag Me To Hell

UIP

Frau Ganush ist verärgert: Drag Me To Hell

Selbst saß ich zum Zeitpunkt der Pressevorführung beim Interview mit Sam Raimi, der seine nostalgisch gestimmte Horrorkomödie Drag Me To Hell in der Mitternachtsschiene des Filmfestivals von Cannes präsentierten durfte. Visuell einfallsreich, perfekt ausbalanciert zwischen Horror und Humor ist die Geschichte einer braven, aufrechten Bankangestellten, die von einer alten Ungarin mit einem Fluch belegt wird, eine Rückkehr des "Spiderman"-Regisseurs zu seinen inszenatorischen Wurzeln: wie bei den "Evil Dead"-Filmen ist die Kamera frenetisch, die Musik hysterisch, der Schmäh bravourös, die Effekte gelungen. Raimi hat es merklich genossen, nach den aufmerksamkeitsintensiven Blockbustern für "Drag Me To Hell" mehr Zeit und weniger Druck zu haben: das Ergebnis ist der vermutlich unterhaltsamste, wahrscheinlich auch einer der ehrlichsten Filme dieses Festivals. Raimi setzt bei seiner Geisterbahn auf altmodische Handwerkskunst, ist beeinflusst etwa von Jacques Tourneur, aber auch von den Horror-Comics seiner Kindheit: prägnanten, pointierten Moralerzählungen. Im Zentrum von "Drag Me To Hell" steht die Gier: der Film wirkt trotz seiner nostalgischen Wirkkraft hochaktuell.

Ein Nazimärchen

Eine Höllenfahrt anderer Art erleben Nazis, wenn sie in Quentin Tarantinos neuem, mit Hochspannung erwartetem Film (laut Schauspielerregisseur Eli Roth ein jüdisches Rachemärchen) von den von einem triumphal aufspielenden Brad Pitt und seinen Inglourious Basterds abgeschlachtet und skalpiert werden. Um Missverständnisse einzudämmen: Enzo G. Castellaris Italo-Trashfilm (fast) gleichen Namens – Inglorious Bastards – zieht der US-Erzählkinorenovator nur zur Inspiration heran: Tarantinos Be- und Aufarbeitung faschistischer Bild- und Abbildkulturen ist gegliedert in fünf Kapitel, das erste davon startet mit "Once upon a time... in Nazi-occupied France" und erzählt vom "Judenjäger" Hans Landa (famose Wiederentdeckung des bekannten Fernsehgesichts Christoph Waltz), der in einem Bauernhaus die Familie des Mädchen Shosanna Dreyfus (Mélanie Laurent) auslöscht. Der Kleinen gelingt die Flucht: Jahre später begegnet man ihr als Kinobesitzerin in Paris wieder, in die sich der deutsche Soldatenheld und Schauspieler Frederick Zoller (total gegen den Strich besetzt: Daniel Brühl) verliebt, in deren Lichtspieltheater er seinen neuen Propagandafilm (basierend auf seiner eigenen "Heldentat") uraufführen will. Die "Basterds" schließlich planen das Kino, in dem an diesem Abend sämtliche Granden des Dritten Reichs anwesend sein werden, in die Luft zu sprengen und damit den Zweiten Weltkrieg zu beenden.

Nazisoldaten und Diane Kruger

UIP

Diane Kruger ist als berühmte Schauspielerin umringt von Nazi-Soldaten: bald kommen die Inglourious Basterds

"Inglourious Basterds" ist ein langsamer und, für Tarantino wenig überraschend, dialogintensiver Film, der sich, bis auf etliche Outdoor-Sequenzen, vor allem in vier, fünf Räumen ausspielt. Der Regisseur, der sich vor allem mit seinen letzten drei Filmen als grandioser Neudenker etablierter filmischer Erzählungen (vom japanischen Rachefilm hin zum Grindhouse-Kino) als zwar referenzhungriger, immer aber auch stilsicherer, bildgewaltiger Inszenierer bewiesen hat, reduziert das was man "Verspieltheit" nennen könnte und was seine Liebe zu rasch ansteigenden Geschwindigkeitkurven und der körperlichen Wirkkraft des B-Kinos meint, ordentlich. Theatralisch wirken die Kulissen, die effektiv, aber eben unspektakulär ausgeleuchtet und in Szene gesetzt sind. Tarantino will, so hat man das Gefühl, zum einen die Pragmatik der oftmals schnell herunter gekurbelten Nazisploitation-Filme der Siebziger Jahre erreichen, zum anderen aber auch jegliches Ornament vermeiden, um den Blick frei zu räumen auf seine Darstellung der Nationalsozialisten (darunter auch Hitler und Goebbels).

Man hat das Raunzen gehört von Harvey Weinstein, der "Inglourious Basterds" wie schon die anderen Tarantino-Filme produziert hab, ob der Unkommerzialität des Unterfangens. Tatsächlich ist das der sperrigste und schwierigste Film des Amerikaners, nicht nur weil er sich vorwiegend auf die Charaktere konzentriert und dabei nicht selten die Schwere eine europäischen Kunstfilms einnimmt, sondern wohl auch, da er das "Native Speaker"-Prinzip durchhält: gesprochen wird auf deutsch, englisch, italienisch und französisch; jeweils untertitelt. Es gilt mittlerweile als sicher, dass der gut zweieinhalbstündige Cut von "Inglourious Basterds", den Cannes-Freak Tarantino in Rekordzeit für das Filmfestival an der Croisette fertig geschnitten hat, jetzt wieder in der Versenkung verschwinden und gekürzt in die Kinos kommen wird. Es dürfte allerdings bereits einiges auf dem Boden des Schneideraums gelandet sein: Maggie Cheung kommt gar nicht mehr vor, Mike Meyers ist nur in einer kurzen Sequenz zu sehen.

Siegen

Thematisch dominierte die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und faschistischen Bildkulturen die letzten Tage des Wettbewerbs an der Croisette: ein beinahe beängstigend adäquates Ergänzungsprogramm zu Tarantinos Nazi-Märchen liefert der italienische Regisseur Marco Bellocchio mit Vincere, insgesamt einer der überzeugendsten Cannes-Filme dieses Jahres. Opulent ausgestattet, mit opernhafter Inszenierungswucht, erzählt der Altmeister von der geheimen, vom Propagandaapparat verdrängten Beziehung Benito Mussolinis zu Ida Dassler.

Benito Mussolini

Festival du Cannes

Benito Mussolini und die Frauen: Marco Bellocchios "Vincere" ist einer der besten Filme des diesjährigen Festivals in Cannes

Archivaufnahmen und Zeitungsausschnitte tanzen über die Leinwand, Bellocchio reflektiert faschistische Bildpolitik, zentral für seinen Film sind Sequenzen in einem Kino, wo es zur Auseinandersetzung zwischen Mussolini uns seinen politischen Gegnern kommt. "Vincere" (zu deutsch: siegen) ist ein mutiger Film, da er den Drall, die Wucht, die Rhythmik, die martialische Musikalität von Propagandafilmen aufgreift und umdeutet, in einen neuen Erfahrungszusammenhang bringt, dabei immer voll und ganz auf seine Erzählung und die Kraft seines Erzählmediums, dem Kino, vertraut.

Wurzel des Bösen

Beinahe ein Gegenstück zu "Vincere" ist Michael Hanekes außergewöhnliches Ensembledrama Das weiße Band: beide Regisseure betreiben eine Archäologie des Faschismus; aber wo Bellocchio (und zu einem gewissen Grad auch Tarantino) sich vorwiegend auf die Wirkungsweisen von politisch instrumentalisierten Medien konzentriert, geht Haneke einen Schritt weiter, zwei Schritte zurück.

Sein zweieinhalbstündiger Schwarz-Weiß Film spielt in einem kleinen Dorf in Deutschland in den Jahren 1913/1914, also am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Entworfen wird ein – wie könnte es anders sein – peinlich genau inszenierter, komponierter und zusammen gesetzter Mikrokosmos vom Bauern hin zum Baron. In ruhigen, konzentrierten, musiklosen Sequenzen zeigt Haneke gesellschaftliche Befindlichkeiten der Zeit auf: die Härte und Emotionslosigkeit im alltäglichen Umgang miteinander, die Durchsetzung von Arbeit, Freizeit und Familie mit protestantischen Dogmen, davon ausgehend den Faustschlag eines bedingungslosen Patriarchats.

10jähriger Bub, Szenenbild aus Michael Hanekes "Das weiße Band"

Warner

Ein Erzähler weist gleich zu Beginn darauf hin, dass in dem Ort seltsame Dinge geschehen werden: der Arzt verunfallt auf seinem Pferd reitend, das über eine gespannte Schnur stolpert, der kleine Sohn des Barons wird entführt und Stunden später schwer misshandelt wieder aufgefunden, die Frau des Bauern stirbt auf mysteriöse Weise im Sägewerk. Ankünder einer vollkommen Umwerfung, Schattenwürfe des nahenden Weltkriegs: Familienkonstrukte brechen zusammen, Emotionen brechen aus. Im Zentrum stehen eigentlich die famos besetzten Kinder des Dorfs, die sich immer wieder zusammenrotten, konferieren, konspirieren, so meint man, und im nächsten Moment dem "Herrn Vater" unschuldig ins Gesicht lächeln. Es ist diese Generation, die 1914 zehn, elf, zwölf Jahre alt ist, die zwei Jahrzehnte später den Nationalsozialismus mitstützen, aktiv antreiben und umsetzen wird. Ein durch und durch unheimlicher, ein abgründiger Film, Hanekes bester seit "Code Inconnu".

Den Buchmachern und Kritikerwertungen zufolge hätte "Das weiße Band" gute Chancen, am Sonntagabend mit der Goldenen Palme ausgezeichnet zu werden. Zu wünschen wäre es dem Film, wäre es auch seinem Regisseur. Ich melde mich am Sonntag oder Montag noch einmal mit einem Round-Up zu den dann ausgelaufenen 62. Filmfestspielen von Cannes.