Erstellt am: 4. 4. 2009 - 09:25 Uhr
Bücherei mit Klaus Nüchtern
Die FM4-Bücherei ist keine herkömmliche Bücherei, in der man Bücher ausleiht, sondern eine, in der Bücher vorgestellt werden.
Der oder die BesucherIn der FM4 Bücherei stellt seine oder ihre drei Lieblingsbücher vor, bzw. Bücher, die man durchaus lesen sollte.
Diesmal zu Gast: Klaus Nüchtern
Er ist der Antipastidepp. Nachzulesen in seiner Kolumnensammlung "Hier kommt der Antipastidepp. Nüchtern betrachtet: 75 recht okayige Kolumnen und drei ziemlich nette Vorworte."
Geschrieben von einem Mann, der seine eigenen Gewohnheiten und Traditionen pflegt und alles andere als hipp sein will. Denn "Nichts führt geradewegs so sehr in die Ecke der Unhippness wie das Bedürfnis, ständig hip zu sein. Die, die am Verkrampftesten ganz cool sein wollen, sind natürlich überhaupt nicht cool."
Wortlaut 09
Alle Informationen auf fm4.orf.at/wortlaut.
mit freundlicher Unterstützung von Der Standard.
Von 2004 bis 2008 war Klaus Nüchtern in der Jury für den Bachmannpreis. "Es war gut. Es war genug", kommentiert er knapp sein Ausscheiden aus dem Wettlesen. Fünf Jahre sind genug. Ich wollte ein bisschen natürlich schon eher den Zeitpunkt erwischen, wo dann die eine oder der andere sagt "schade" und nicht "naja, war ja wohl schon Zeit."
Der Vorteil für uns - so hat Klaus Nüchtern im Sommer Zeit, Wortlaut-Texte zu lesen, entscheidet er doch in der Jury über die besten Kurzgeschichten.
Hier stellt er drei seiner Lieblingsbücher vor.
Bisher zu Gast in der FM4 Bücherei
Sibylle Berg
Francoise Cactus
Arno Geiger
Christian Kracht
Kathrin Passig
Tilman Rammstedt
Sven Regener
Christiane Rösinger
Tex Rubinwitz
Rocko Schamoni
Funny van Dannen
Franz Adrian Wenzl
Nüchtern/Bereuter
Nikolai Gogol: Petersburger Erzählungen
Fischer Verlag
Gogol, Nikolai: Petersburger Erzählungen.
Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M.
Gogol zuallererst wahrscheinlich aus einer gewissen physiognomischen Sympathie, der Mann hatte eine nicht unprononcierte Nase. Die Nase spielte auch in seiner Dichtung eine sehr große Rolle. Ich bin auf den gestoßen, als ich ein paar Tage bei einem Freund in Villach verbracht habe, und ich hatte nichts zu lesen und ich habe, glaub ich, irgendeine Vorstellung gehabt, davon, was ich jetzt gerne lesen würde, und das, was ich wollte, hab ich jedenfalls nicht bekommen. Da hab ich dann eben diesen Band mit Erzählungen gefunden, das war schon so etwas wie ein - "Erweckungserlebnis" ist kindisch, aber ich war sozusagen schon längst Ende 30 und da passiert es einem ja relativ selten, dass man irgendwie was in die Hand nimmt und sagt "wow – toll – unglaublich". Und so ist es mir aber damals damit gegangen.
Es ist so diese Mischung – einerseits hat er einen wirklich ganz, ganz guten subtilen Humor. Satirisch, drastisch, aber wahnsinnig komisch. Und gleichzeitig hat er daneben ein unglaubliches, durchaus kalkuliertes Pathos und eine ganz große Empathie.
"Die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", das war die erste Geschichte, die handelt von einem Subalternen, wie die meisten Helden von Gogol, die in dieser unglaublich differenzierten und wichtigen russischen Hierarchie immer bedrängt sind von Aufstiegssehnsüchten und Abstiegsängsten. Die sind also nicht gerade in der obersten Schicht zu Hause. Sind auch durchaus lächerliche und nicht besonders glamouröse Typen. Und dieser eine Protagonist z.B., der verliebt sich in die Tochter des Direktors, die natürlich unendlich weit von ihm entfernt ist. Und fängt dann an, irre zu werden. Das Ganze ist in Aufzeichnungen, so tagebuchartig dokumentiert.
Es beginnt damit, dass er die Hunde sprechen hört, dann führen die Hunde auch noch Korrespondenz miteinander und es wird immer irrsinniger, also allein bei den Datumsbezeichnungen könnt ich mich wegwerfen. Man hat z.B., 5. Dezember, 8. Dezember und dann springt's auf einmal zum Jahr 2000, den 43. April, den 86. Martember zwischen Tag und Nacht, gar kein Datum. Der Tag hatte kein Datum. Auf das Datum besinn ich mich nicht, einen Montag gab es auch nicht, weiß der Teufel, was es war.
[...]
Ich denke doch, dass Gogol eine sehr starke Sympathie für die kleinen Leute hat, ohne dass das je in den Kitsch abdriftet.
Mich rührt das wirklich an.
Gernot Wolfgruber: Auf freiem Fuß
Jung und Jung
Wolfgruber, Gernot: Auf freiem Fuß. Neu herausgegeben vom Verlag Jung und Jung, Salzburg 2009
Das ist eine Geschichte eines Lehrlings, der im Waldviertel aufwächst und zuerst in eine Textildrucklehre gesteckt wird, dort dann kündigt. Dann kommt er in die Glasfabrik und den Job hat er auch nicht lange. Und dann kommt er in eine Bleisetzerei und lässt sich dann, mehr aus Langeweile und Abenteuerlust, in so einen Diebstahl ein und wird erwischt, wandert ins Gefängnis und ist dann quasi am Ende wieder auf freiem Fuß. Und die letzten 30 Seiten des Romans erzählen einfach nur, wie er versucht, wieder Tritt zu fassen.
Und ich mein, wie sich der dem Phänomen der Adoleszenz nähert, das finde ich schon sehr beachtlich. Weil es wird ja weiß Gott unglaublich viel geschrieben über so die eigene Befindlichkeit, ausstaffiert mit Verweisen auf Popmusik und weiß der Teufel was. Ironisch und wehmütig und wie auch immer. Und das hat dann so eine unglaubliche Härte auch gegenüber diesem Ich-Erzähler. Der wird auch nicht beschönigt. Das ist auch wiederum kein besonders gewinnender Typ. Wie der z. B. mit Frauen umgeht, das ist relativ entsetzlich. Das ist entsetzlich und ärmlich zugleich. Auch seine Sehnsüchte, die sich dann halt an deutschen Gangsterfilmen mit Mario Adorf entzünden. Oder der Elvis, der ausgeschnitten wird aus irgendwelchen Zeitungen, den aber die Mutter dann wegräumt. Das ist ganz offensichtlich Teil der eigenen Biografie.
Weil das für mich eine völlig fremde Welt war, hab ich das auch mit einem gewissen voyeuristischen Blick betrachtet. Das ist vielleicht ein zu pathetisches Wort, aber ich würde das rückblickend schon sagen, dass dieses Buch so ein bisschen ein Teil meiner Politisierung war, wenn man so will.
A. F. Th. van der Heijden: Die zahnlose Zeit
Suhrkamp
van der Heijden, A. F. Th.: Die zahnlose Zeit. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main
Jetzt kommt mein Exzess. Das Ganze ist nicht ein Roman, sondern ein Romanzyklus, der insgesamt rund 3.500 Seiten umfasst, von denen ich fast alle gelesen habe.
[...]
Ein unglaubliches Figurenarsenal, ein unglaublicher Aufwand der Phantasie der Erinnerung. Das spielt v.a. in den 1970er Jahren. Es geht u.a. um Amsterdam zur Punk- und Hausbesetzerzeit. Es geht im Großen und Ganzen um Erinnerungen dieses Albert Egbert. Der ist einerseits ein Junkie, andererseits jemand, der versucht, das Projekt des Lebens in die Breite zu entwickeln. Das ist natürlich ein Gegenwurf zu Proust. In der Erinnerung so was wie einen Stillstand zu erreichen und verschiedene Zeitebenen hereinzuholen und sozusagen das Leben dadurch länger zu machen, aufzuladen. Also Rausch und Sucht ist ein ganz zentrales Thema, Es gibt unglaublich physisch aufgeladene und nachvollziehbare Beschreibungen von Euphorie, Rausch, aber auch Entzugserscheinungen, also Cold Turkey. Und es gibt einige der phantastischsten Katerbeschreibungen, die ich kenne. Und das ist so ein Opus, in dem man wirklich so versinken kann. Und wenn man das ganze Personal, das in die Hundertschaft von Personen geht, ein bisschen drauf hat und die Bezüge, also das ist so ein Ding, an dem kann man sich doch ein Leserleben abarbeiten.
[...]
A. F. Th. van der Heijden hat knapp 20 Jahre daran geschrieben.
Ich bin eingestiegen mit "Anwalt der Hähne", der glaub ich, der letzte Band ist. Also auch da kann man einsteigen. Die sind auch nicht chronologisch erschienen bei uns.
Ich glaube, es sind sieben Bände insgesamt, ich habe nicht von A nach Z gelesen und der Autor hat auch nicht von A nach Z geschrieben. Sondern der Mittelteil ist am Schluss entstanden. Aber es ist jetzt abgeschlossen.
Die FM4 Bücherei mit Klaus Nüchtern gibt es am Sonntag, 5. April 2009, in FM4 Connected (13-17 Uhr) zu hören.