Erstellt am: 15. 2. 2009 - 15:42 Uhr
"Schuld ist das Radio"
Mit "es stimmt etwas nicht" beginnt Tom Holert seinen Vortrag bei einem Kongress, der auszuloten versucht, was genau nicht stimmt. "Es" ist die Popmusik und ihren Zustand zeigt ein Zitat des Geschäftsführers der IFPI, dem Weltverband der Phonoindustrie:
"Wir behaupten nicht, bisher auch nur eine entscheidende Schlacht gewonnen zu haben, noch viel weniger den Krieg. Die Leute müssen dazu gezwungen werden zu kaufen, anstatt es sich gratis [for free] zu holen. Und das wird nicht mit ihrer eigenen Zustimmung passieren."
John Kennedy (16.01.09) in der New York Times anlässlich der Midem Eröffnung.
Tom Holerts Vortrag zum Thema "Audio-Gouvernementalität" ist in gekürzter Form mit dem Titel: Digitale Ich-Maschine in Jungle World erschienen.
Diesen scharf ätzenden Sounds, wie sie die Musikindustrie die letzten Jahre gern von sich gibt, versuchte der Kongress Dancing With Myself, der von 16.-18. Januar 2009 in Berlin stattfand, ein Gegengewicht zu geben und versammelt MusikerInnen, JournalistInnen und WissenschaftlerInnen, um sich dem weltuntergangstragischen Jammern der Industrie von einer kulturkritischen Perspektive aus nähern. Die "digitale Revolution" hat eine Zäsur in die Art Produktion, Rezeption und Verteilung von Musik geschlagen. Die Popmusik mit ihren "außergewöhnlichen und gewöhnlichen Interaktionsweisen, Lebensformen, Freiheitsversprechen, Glücksempfindungen, Erschöpfungszuständen, Handlungsintuitionen und Erkenntnisblitzen, ihre Ordnung als soziokulturelle Praxis" stimmt nicht mehr.
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Michael Schmid (ORF radio FM4)
Ausgangspunkt für die Diskussionen Mitte Jänner in Berlin war ein Vortrag des weißhaarigen Wirtschaftstheoretikers, Romanciers, Journalisten und Sarkozy-Berater Jacques Attali (Bild oben). Er spürte schon 1977 in seinem Buch "Bruits" (engl.: "Noise"), Veränderungen innerhalb der Ökonomie der Musik, und um so mehr freut er sich jetzt, knapp dreißig Jahre später, über das Wahrwerden seiner Vermutungen. Für ihn ist Musik ein Spiegel der Gesellschaft und ein System, das gesellschaftliche Entwicklungen antizipiert. Musik geht, so Attali, den sozialen Bewegungen voraus. Sie ahnt Veränderungen und ist immer eines der ersten gesellschaftlichen Systeme, das sich umbaut/umgebaut wird. "Ein Zeichensystem, das Paradigmen erzeugt, die Paradigmenwechsel unterliegen", wie er es selbst formuliert.
Bei den aktuellen Entwicklungen rund um die Musik werfen die Methaphern des Kriegs und der Aufruf zum Kaufzwang von Seiten der Musikindustrie natürlich kein gutes Licht auf den Zustand der Gesellschaft. Dazu kommt, dass neue Regulierungen und neue Gesetzesentwürfe zur Verfolgung von BenutzerInnen von Tauschbörsen eingefordert werden. Nach dem Vorbild von Neuseeland zum Beispiel, wo nach dem dritten als "illegal" eingestuften Tausch von Songfiles (three strikes) der Internetzugang abgedreht wird, und Menschen so aus einem immer wichtiger werdenden Teil der sozialen Realität ausgeschlossen werden. Ist hier nicht nur das Prinzip der Unschuldsvermutung in Gefahr, sondern drohen vielleicht dramatischere Umbrüche?
"Derjenige, der über Musik spricht, spricht über Macht"
Musik gibt Geräuschen eine Struktur. Das ist die einzige Gemeinsamkeit aller Musiken dieser Welt. Dieser musikalische Prozess ist für Attali eine Metapher für den politischen Prozess der Organisation von Gesellschaft und der damit verbundenen Domestizierung oder Kanalisation von Gewalt.
Eine intime Beziehung zwischen Musik und Gewalt ortet er schon bei sehr frühen Gesellschaften, wo es Priestern über religiöse Zeremonien möglich war, Gewalt mit Hilfe von Musik zu kanalisieren. Ein ähnliches System des Machterhalts mit Musik gab es wohl auch in Zeiten der Stände.
Über die Jahrhunderte emanzipierten sich die Musiker von Religion und Hof und schufen Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhundert ein neues wirtschaftliches Modell: Der geschlossene Konzertsaal. Musik wird zur wirtschaftlichen Ware und war so Vorreiter für ein neues Besitzverhältnis. Für Attali kündigte diese Organisation der Musik etwas an, das man später Marktwirtschaft nennen wird. Die Verknappung von Aufführungen und Konzertplätzen steigert den Wert der Darbietung.
Den nächsten Schritt macht das Grammophon. Für Attali sind die Maschinen zur Tonreproduktion eine Prophezeiung für marktwirtschaftliche Serienproduktion, wie man sie später während der Industrialisierung kennengelernt hat. Die damaligen Ängste der Musiker, im Orchestergraben von Abspielmaschinen ersetzt zu werden, zeigen gewisse Ähnlichkeiten mit den Ängsten zu Zeiten der digitalen Revolution. Machen die Tauschbörsen Musik noch komplett wertlos?
"Schuld ist das Radio"
Die richtig große Revolution brachte aber das Radio. Musik war plötzlich gratis (zumindest gefühlt). Eine Katastrophe für die Musiker, die, so Attali, 15 Jahre brauchten, um dieses radikale Medien-Modell zu akzeptieren.
Während der Globalisierung kommt es dann zur Neudefinition der Idee von Eigentum. Tonträger und Medien aller Art, die der Branche bis jetzt zur Vermarktung und Wertschöpfung gedient haben, kommen dieser Funktion nicht mehr nach. Musik scheint uns durch die Finger zu rinnen, wird immer ungreifbarer. Aber es ist nicht weniger Musik im Verkehr, es wird einfach kaum noch für Musik bezahlt.
Kontrolle und Kriminalisierung
Viel zu spät und ohne Strategie reagierte die Musikindustrie auf den Wandel. Ausgehend von der Idee, dass Technik das Problem sei, musste Technik auch die Lösung darstellen. Digitale Rechtekontrolltechnologie ist entwickelt worden, Nutzungsfreiheiten des Urheberrechts oder Datenschutzfragen wurde dabei eher wenig Beachtung geschenkt. Erst 2007 haben alle vier Musikmajors angegeben, dass sie auf DRM verzichten werden - mangels Erfolg.

Martin Krzywinski
Nachdem der Angriff auf die Computer auf unseren Schreibtischen gescheitert ist, zielt der nächste Angriff auf die Internet-Infrastrukur. Mit Deep-Packet-Inspection ist es heute möglich, in die Inhalte von Internetdatenpakete hineinzuschauen, und dort nach Musikstücken zu suchen. Über Fingerprint-Datenbanken kann eruiert werden, ob dieses Musikstück urheberrechtlich geschützt ist. Solche "illegalen" Downloads stehen etwa in den USA unter Strafe. Trotzdem sind nach Schätzungen ungefähr 40 Milliarden Songfiles im Jahr 2008 über Tauschbörsen heruntergeladen worden.
Für Attali beginnt hier eine interessante gesellschaftliche Debatte: Innerhalb eines Überwachungssystems für Downloads ortet er die Gefahr einer "grundsätzlichen Kontrolle". Musik zeugt also gerade von einer Entwicklung in Richtung Totalitarismen. Wenn man Attalis Argumentation folgt, dass Musik gesellschaftliche Phänomene vorwegnimmt, dann stehen wir - grob überspitzt formuliert - kurz vor einer Diktatur. Oder wie er es selbst formuliert: "Musik darf nicht Geburtshelfer eines totalitären technologischen Regimes werden."
"Die Künstler wollen etwas verteidigen, das es nicht zu verteidigen gibt."
Statt Kontrolle und Kriminalisierung schlägt Attali eine Bezahlung über eine globale Entschädigung vor: Die Flatrate. Eine Art Steuer, ähnlich einem Abo für den Konzertsaal, die jeder Haushalt mit Internetanschluss zu bezahlen hätte. Für beispielsweise 5 Euro pro Monat dürfen alle Texte, Musikstücke, Filme, etc. auf die Festplatte geladen und getauscht werden. Ein ähnliches System wie die Rundfunkgebühren also. Die MusikerInnen, SchriftstellerInnen und FilmemacherInnen werden über ein technisch recht einfaches System bezahlt.
Komposition
Der Musiker, DJ und Transgender-Theoretiker Terre Thaemlitz ist einer der schärfsten Kritiker Jaques Attalis. Er hat seine Antwort auf das Konzept der Kompostion verfasst.
Nachdem der weißhaarige Philosoph mit der hohen Stirn seine düstere Prognose der Zukunft aufgemalt hat, geht aber neben der globalen Steuern noch ein weiterer Funken Optimismus am Horizont auf. Denn innerhalb des Unterganszenarios der Musikindustrie und dem Entwurf einer turbokapitalistischen Kontrollgesellschaft, auf die wir gerade zuzusteuern scheinen, hat Attali sein leicht esoterisches Konzept der "Komposition" entworfen.
Parallel zum Sterben des Tonträgermarktes boomt nämlich der Verkauf von so genannten Prosumer-Tools, also (Musik-)Software, DJ-Technologien und Instrumenten, die es für relativ wenig Geld jeder/jedem möglich machen ihre/seine eigene Musik zu produzieren. Attali geht von einem Konsumenten aus der eingreift, der mitgestaltet. Eine Mischung zwischen ProduzentIn und KonsomentIn also, der sich innerhalb der Matrix des Netzes einschreibt, und versucht sie zu verändern. Diese "Freude am Machen" findet bei Jacques Attali immer jenseits von Verwertungszusammenhängen statt. Man könnte es vielleicht postökonomische Musik nennen und die Figur des DJs wäre genau das. Hier wird etwas Gemachtes zu etwas Neuem vermischt, und die Freude am Machens ist größer als die Freude am reinen Hören. Der Boom am Instrumentenmarkt und an Karaoke sind für Attali genauso Indizien dieser neuen Bewegung. Und gleichzeitig bietet das Internet für ihn eine neue Form von Kollektivität an: ähnlich der des Orchesters.
Mehr zu Pop und Zukunft gibt's in einer FM4 Homebase Spezial am Donnerstag 19.02. ab 19 Uhr.
Obwohl Attalis Vorstellungen von einem recht romantischen Zugang zum Musikgeschäft zeugen, entwirft er doch einen interessanten ideologischen Wandel. Ähnlich wie in einem Orchester könnte man laut ihm eine Musikwelt denken, "in der ich nicht daran interessiert bin, möglichst gut zu sein, sondern daran, dass die anderen möglichst gut sind." Ein reizvoller Gegenentwurf unserer globalisierten Emotionsindustrie, oder?
Wie die Kultur-Flatrate genau funktioniert, was hinter Chris Andersons Prinzip des "Long Tails" steckt, wo die Krise der alten Popökonomien herkommt, wie die Musikkritik (nicht) auf die Verschiebung der Öffentlichkeiten ins Internet reagiert, und ob nicht gar der Staat in Zukunft für die Pop-Musik verantwortlich sein soll, das wird in den nächsten Tagen hier verhandelt.