Erstellt am: 4. 4. 2017 - 13:19 Uhr
"Man hat nicht gemerkt, dass ich auf der Straße bin"
„Vor 2 Jahren habe ich meine Kleinste auf die Welt gebracht. Meine Familie hat gesagt: Entweder die kleine bleibt, oder du!“, erzählt Melissa. Sie hat sich für die Kleine und gegen die Familie entschieden und ist nach Wien gegangen. Ohne Job, das Geld war knapp. Ein halbes Jahr lang hat sie sich durchgeschlagen, indem sie immer wieder bei Freunden geschlafen hat. Dass sie keine Wohnung hat, hat man ihr nicht angesehen, erzählt sie. „Ich bin halt normal herumgegangen, man hat das bei mir nicht gemerkt, dass ich auf der Straße bin – Gottseidank! Jetzt denke ich mir: In so eine Situation möchte ich nicht mehr geraten! Ich weiß, wie das ist, wenn man nichts hat.“
Caritas
Ein halbes Jahr ging es so, dann hat das mit den Freunden auch nicht mehr geklappt und Melissa hat sich bei der Caritas gemeldet. Schlussendlich hat sie einen Platz im JUCA bekommen, einem Haus für junge Wohnungslose der Caritas. Sie wohnt hier in einer WG und holt derzeit den Pflichtschulabschluss nach.
Kein „Sandler“ auf der Parkbank
Dass Melissa lange versucht hat, ihre Wohnungslosigkeit zu verbergen, ist typisch dafür, wie junge Menschen mit ihrer Wohnungslosigkeit umgehen. Wie der klassische Sandler auf der Parkbank wollen sie nämlich nicht ausschauen. Sie haben andere Bewältigungsstrategien. „Deswegen sieht man sie nicht“, sagt Hannah Svoboda-Grafschafter, sie leitet JUCA. „Sie suchen andere Orte auf, verbringen den ganzen Tag zum Beispiel in Einkaufszentren.“
Oft geben sie dann Geld, so sie an welches kommen, für Kleidung aus, anstatt für vielleicht dringendere Dinge. „Weil eigentlich wollen sie angepasst sein und Teil der Gesellschaft“, sagt Hannah Svoboda-Grafschafter. Das ist auch ein Grund, warum klassische Obdachlosen-Einrichtungen von Jüngeren kaum besucht werden. Sie sehen sich nicht als Teil der Gruppe Menschen, die hierherkommen.
Ein Drittel unter 30
Dabei wäre es notwendig sie zu erreichen, denn die Zahlen zeigen eindeutig, dass Obdachlose immer jünger werden. Mittlerweile ist ein Drittel der Menschen, die sich an Wohnungsloseneinrichtungen der Caritas wenden, unter 30 Jahre alt. Ein Viertel ist sogar unter 25. Auch im JUCA ist das zu bemerken: Das Haus nimmt offiziell Menschen von 18 bis 30 Jahren auf, es wurden aber auch fallweise bis 35-Jährige aufgenommen. „Das gibt es schon seit Jahren nicht mehr“, sagt Hannah Svoboda-Grafschafter. „Mittlerweile sind die die 18- Bis 20-Jährigen die größte Gruppe.“
Europaweit sind junge Menschen besonders gefährdet, ihre Wohnung zu verlieren. Das sagt eine aktuelle Studie von FEANTSA einem EU-weiten Zusammenschluss von Obdachlosen-NGOs. Gründe dafür sind steigende Mieten und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit.
Die Hälfte aller ÖsterreicherInnen mietet am privaten Mietmarkt, 20 Prozent am geförderten Mietmarkt (der Rest sind Haus/WohnungsbesitzerInnen). Das ist im Europavergleich ein verhältnismäßig hoher Wert.
Man gilt als „Überbelastet“ mit Mietkosten, wenn man mehr als 40 Prozent des verfügbaren Einkommens für das Wohnen ausgibt. Und das ist immer mehr bei jungen Menschen der Fall, auch in Österreich.
In einem Forderungspapier zur Wohnungslosigkeit unter jungen Menschen hält FEANTSA außerdem fest, dass obdachlose Jugendliche besonders oft von häuslicher oder sexueller Gewalt betroffen sind/waren. Auch Jugendliche, die lesbisch, schwul oder transgender sind verlassen deswegen ihr zu Hause. Diese Fakten werden aus internationalen Studien zusammengefasst – auch Daten aus den USA und Kanada sind dabei.
Caritas
Vererbte Armut
„Unsere Erfahrungen sind ähnlich der internationalen Studie“ sagt Hannah Svoboda Grafschafter. „Dieses Phänomen von jungen Wohnungslosen zeichnet sich die letzten Jahre schon ab und wird immer massiver.“
In Österreich kommt es oft gar nicht dazu, dass junge Menschen mieten. Wohnungslos werden hier vor allem Junge, die schon ganz früh aus dem Bildungssystem gefallen sind. „Oft sind das Personen, die zu Hause Schwierigkeiten haben. Ein Grund kann häusliche Gewalt sein, genauso kann es ein Suchtproblem der Eltern sein oder dass sie nicht in der Lage sind, sich zu kümmern.“
Das sind also viele Junge, die schon die Pflichtschule nicht geschafft haben und im Anschluss daran keine Lehre beginnen. „Damit kommt diese Perspektivenlosigkeit schon ins Rollen“, sagt Hannah Svoboda Grafschafter. Für diese Personen gibt es keinen Mietmarkt, denn VermieterInnen nehmen ungern Menschen, die zum ersten Mal alleine wohnen. Die Caritas versucht daher in solchen Fällen auch als Vermittlerin bzw. Mieterin einzuspringen.
Lesbische oder schwule Jugendliche gibt es viele unter den Wohnungslosen, sagt Svoboda Grafschafter. Oder viele, die sich ihrer sexuellen Orientierung nicht sicher sind. „Das ist generell ein Entwicklungsthema, das bei vielen nicht abgeschlossen ist.“
Die türkis-rosa-lila Villa in Wien hat immer wieder Wohnplätze für LGBTIQ Personen zur Verfügung gestellt. Die Queerbase vermittelt u.a. auch WG-Plätze für Flüchtlinge, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden.
Ganz allgemein kann man sagen, dass vererbte Armut der größte Faktor ist, warum jemand wohnungslos wird. „Es gibt auch so genannte Wohlstandsverwahrloste, manche haben auch Matura, aber die kann man an einer Hand abzählen“, sagt Hannah Svoboda-Grafschafter. „Meistens ist es ein Elternhaus, in dem ich mich nicht aufgehoben fühle“
Die versteckte Wohnungslosigkeit
Quer durch alle Altersgruppen sind mehr Männer obdachlos als Frauen, nur bei den ganz jungen sind es mehr Mädchen. Dann gibt es mit dem Alter 23/24 eine Art Knick: die Mädchen werden weniger, die Jungs mehr. „Dafür gibt es verschiedene Erklärungen, die alle nicht ganz greifen“, sagt Hannah Svoboda-Grafschafter. Eine ist die „versteckte“ Wohnungslosigkeit (die man generell bei Frauen beobachtet): Frauen tendieren dazu eine Partnerschaft einzugehen, um über diesen Weg zu Wohnraum zu kommen. Allerdings will Hannah Svoboda-Grafschafter das nicht so stehen lassen, als wäre das eine reines Mädchen-Phänomen: „Auch die Jungs gehen Zweckpartnerschaften ein – da geht’s eher drum, nicht ganz legale Sachen zu organisieren. Das wird oft nicht so dramatisch gesehen – auch von ihnen selbst nicht.“
Ziel: Alleine Wohnen
Wer im JUCA einen Platz bekommt, darf insgesamt zwei Jahre bleiben, die meisten leben in Einzelzimmern in WGs. Während dieser Zeit machen sie Schulabschlüsse, suchen eine Lehrstelle, es gibt sozialarbeiterische und psychologische Betreuung. Ziel ist es, dass die BewohnerInnen danach alleine leben oder zumindest in einer betreuten WG sind. „Es ist aber auch ein Wahnsinn zu glauben, dass das, was 18 Jahren lang schief gelaufen ist, in zwei Jahren alles vergessen ist“, sagt Hannah Svoboda-Grafschafter.
Melissa kann noch bis August im JUCA bleiben, sie ist auf der Suche nach einem Platz für danach. Mit ihrem Sozialarbeiter hat sie eine betreute WG angesucht. Und sie sucht selbst nach einer Wohnung – aber das ist schwierig: „Das Sozialamt hilft mit 900 Euro Kaution und 600 Euro Provision. Aber die Miete darf nur 400 Euro sein. Eine Wohnung mit 400 Euro findet man nicht!“, seufzt sie. „So einfach geht das nicht alleine!“