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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

30. 3. 2017 - 11:33

In komprimierter Form packbar

Von menschenleerer Zivilisation zum Lebensnarrativ einer Sekretärin im Nationalsozialismus: drei richtig gute Dokus auf der Diagonale in Graz. Und heute: Wir streamen in Bewegtbild!

Es kann einem auf der Diagonale am Vormittag gehen wie einem deutschen Filmkritiker in einer Vorführung der Doku "Homo Sapiens": Der Mann ist einfach eingeschlafen, "wieder aufgewacht und war noch immer in dem Film und hat ihn umso mehr gemocht". Das erzählt der Regisseur und Kameramann Nikolaus Geyrhalter gestern im Grazer KIZ KinoRoyal.

Haus der Architektur in Graz von außen: Davor parkt ein Oldtimer der Diagonale und drinnen tanzen Menschen

Radio FM4

Party! #durchdieNacht'17 im HDA, wo heute Nacht bei "Innen/Nacht" u.a. Johanna Moder, Mirjam Unger und Sebastian Brameshuber auflegen werden.

Bei den Bildern von in Gläsern eingelegten tierischen Überresten muss ich kurz weggenickt sein. Die Partys und große wie leisere Hallos vor der Bar8020 ziehen sich für manche bis zum Frühstück. Die Schneise Kunsthaus/Haus der Architektur/Hotel Mariahilf mit Bar 8020 wurde im steirischen herbst 2011 erstmals hervorragend als Festivaldistrikt angeboten und wird jetzt von der Diagonale fortgesetzt. Um Mitternacht stehen drei Mal so viele Menschen in der Fußgängerzone, wie in der Bar 8020 Platz finden.

Im Film "Homo Sapiens" hingegen ist kein einziger Mensch zu sehen. Wie eine Welt nach den Menschen ausschauen würde, das hat sich Nikolaus Geyrhalter schon als Kind überlegt. Einen Science-Fiction-Film wollte er nicht drehen, schließlich gibt es genügend von Menschen verlassene Orte. "Abandoned places" füllen ganze Fotoblogs. Eine eigenartige Ruhe macht sich auch auf der Tonebene breit. Bis man sich das Päckchen mit saurem Gummizeug aufzureißen traut, schlagen viele Vögel ihre Flügel. "Wir halten fest: Es ist hauptsächlich ein Film über Tauben!", scherzt ein Diagonale-Gast.

Verkommenes Gerüst im Meer in Ufernähe. Es schaut aus wie eine einstige Hochschaubahn. Filmstill aus Nikolaus Geyrhalters Doku "Homo Sapiens".

NGF

Während ich im Film über die Endlichkeit menschlichen Seins sitze, präsentieren FPÖ und ÖVP in Graz ihr Regierungsabkommen bis 2022 für die Stadt. Zwei im Layout luftig gehaltene Seiten zur Kultur halten u.a. den Wunsch fest, KünstlerInnen in die "wirtschaftliche Unabhängigkeit" zu führen und bezeichnen die steirische Landeshauptstadt als "Zentrum der Volkskultur" inklusive Bekenntnis zur Veranstaltung "Aufsteirern". Kein Wort zur Diagonale, doch Graz soll "stärker als Filmstadt positioniert werden". Die Jahreszahl 2022 klang einst futuristisch, jetzt sind das gerade mal fünf Jahre hin.

"Die Lodenmänteldichte ist aus dem Stadtbild verschwunden. Die Kleinkariertheit und der Mief tarnen sich heutzutage modischer", hat Peter Schernhuber, der mit Sebastian Höglinger die Diagonale leitet, bei der Programmpräsentation der Diagonale gesagt.

Manchmal wollen die Augen den Bildern von "Homo Sapiens" misstrauen und versuchen, in einem wohl einst überfluteten Boden eine Silhouette auszumachen, und war da nicht ein Hund in einer Szene? Nein. Kröten und Vögel würden den Planeten bevölkern, wenn Tsunamis und hausgemachte Katastrophen zugeschlagen haben würden. Fehlen nur noch die Flugsaurier. "Homo Sapiens" ist ein perfekt fotografierter Film und für wenige Minuten wird einem bei der Vorstellung, einmal nicht mehr zu sein, sondern als Sandkörnchen durch die Luft gewirbelt zu werden, überhaupt nicht anders zumute. Dass Nikolaus Geyrhalter etwa das Schlachthaus im Film aus Aufnahmen in drei Ländern im Schnitt zusammengesetzt hat, verrät er im Publikumsgespräch. Auch durften die Schauplätze nicht zu kaputt aussehen, noch nicht von Kupferdieben geplündert oder mit Graffiti übersäht sein. Es ist kein Betrug am Publikum, sondern perfekte Arbeit.

Schauplatzwechsel. Es geht in die Oper!

Es ist schon sehr lustig, dass ausgerechnet in dem Jahr, in dem die Diagonale ihr 20. Mal in Graz feiert und mit "1000 Takte Film" einen Programmschwerpunkt zu Pop und Film setzt, eine Doku begeistert, die als Ausgangspunkt die Welt der Oper hat.

"Secondo me" von Pavel Cuzuioc wird von allen sehr gemocht. Weil eh alle irgendeinen Mist haben, mit dem sie zurechtkommen müssten, formuliert es einer aus meinem persönlichen #teamdiagonale. Der sehr liebe Dokumentarfilm erzählt vom Leben dreier Garderobiers, doch "ihre" Opernhäuser in Wien, Mailand und Odessa treten in den Hintergrund. Es ist ein Film, er auslöst, dass sich Menschen Mitte Zwanzig für post-pensionistische Depression interessieren. Die Protagonisten aus Wien und Odessa sind in Graz anwesend.

Garderobier an der Mailänder Scala

Michael Schindegger

Eine Doku, die sehr viele mochten: "Secondo me" kommt am 21. April 2017 in die heimischen Kinos.

Es war der erste richtige Festivaltag und schon haben alle das Gefühl, mit ihren Plänen im Verzug zu sein. Wechselt man das Kino, geht sich die nächste Vorstellung dieses Jahr nicht so locker aus wie in vergangenen Jahren.

Ein Schauauftrag am ganzen Stück

Eine spezielle Form von Hardcore ist die dritte Dokumentation des gestrigen Festivaltages. "Ein deutsches Leben" ist ein schlichter Titel für die einenhalbstündige Darlegung Brunhilde Pomsels Lebensgeschichte. Zu Wort kommt ausschließlich Brunhilde Pomsel. Wer war diese Frau, die im Vorjahr im Alter von 106 Jahren gestorben ist und der nicht nur die New York Times einen Nachruf geschrieben hat?

Brunhilde Pomsel umfasst mit ihren Händen ihr Gesicht. Sie ist 2016 verstorben und die Hauptfigur der Doku "Ein deutsches Leben"

Blackbox Film Medienproduktion GmbH

Am Ende wird einem ganz anders. Brunhilde Pomsel ist die Hauptfigur der Doku "Ein deutsches Leben". 1911 in Berlin geboren, arbeitete sie in der Zeit des Nationalsozialismus zuerst bei der nationalsozialistischen "Reichs-Rundfunk-Gesellschaft" und wechselte 1942 ins Büro Joseph Goebbels. Sie schätzte schöne Kleider: "Ich war immer sehr verspielt, vielleicht sehr äußerlich. Mir hat's geholfen, meine Art."

Wessen Nachsicht?

Ein Kollektiv von vier österreichischen Regisseuren hat sich wie eine Handvoll JournalistInnen vor ihnen genau diese Frage gestellt und Brunhilde Pomsel zum Interview gebeten. Als Sekretärin Joseph Goebbels diente sie in der Schreibstube des nationalsozialistischen Propagandaministers und damit in einem Zentrum der Macht. Sie verdiente für die Zeit so gut, dass sie mit dem Geld wenig anfangen konnte, weil es kaum etwas zu kaufen gegeben hätte. Schöne Kleider hätte sie sich schneidern lassen. Aber das hatte doch nichts mit dem Propagandaminister zu tun, wird Brunhilde Pomsel erzählen. Und vieles mehr.

Manchen ZuschauerInnen wird die alte Dame mit ihren tiefen Gesichtsfalten sympathisch, sie weiß sich Gehör zu verschaffen und dann macht ihr und dem Publikum die Dramaturgie einen Schnitt durch die Rechnung. In den letzten Minuten des Films gibt es kein Einsehen bei Frau Pomsel. Und wer hat Nachsicht mit ihr? Und wenn ja, was sagt das, was fängt man an damit?

Bezeichnet sie Goebbels in den Anfangsminuten als tobenden Zwerg im Sportpalast 1933 - im Arbeitsalltag später sei er anders gewesen-, so habe sie einfach getippt. "Ein deutsches Leben" muss und sollte einzig am Stück angeschaut werden. Denn Pomsels Narrativ ihrer persönlichen Geschichte, komprimiert aus dreißig Stunden Interviewmaterial, stellen die Filmemacher die politische Dimension ihrer Arbeitszeit im Nationalsozialismus sorgfältig ausgewählten historischen Aufnahmen entgegen, die das Holocaust-Museum in Washington und das Steven-Spielberg-Videoarchiv für kommende Generationen bewahren.

Cut. Wir streamen!

Heute live
im Schubert Kino Graz und auf der FM4 Facebookseite ab 12 Uhr und ab 19 Uhr in der FM4 Homebase, die sich eine Stunde lang der Diagonale widmet.

Die Diagonale hat noch immer keinen roten Teppich, obwohl Veronika Franz und Severin Fiala auch in Graz sind und die beiden sind ja aktuell Hollywood sehr nah. Den Teppich hat auch eine Abordnung der FM4 Filmredaktion im Funkhaus gelassen. Doch: Heute Mittag heißen wir im Schubert Kino FilmemacherInnen wie Josef Hader, Marie Kreutzer, Nina Kusturica, Wolfgang Möstl und Antonin B. Pevny willkommen! Der Countdown läuft, die freudige Aufregung steigt!

Jan Hestmann, Josef Hader und Christoph Sepin

FM4

Die Diagonale beschäftigt sich dieses Jahr in einem großen Programmschwerpunkt mit der Verbindung zwischen Pop und Kino, auch FM4 nimmt das zum Anlass sich programmatisch dem Thema zu widmen. Jan Hestmann und Christoph Sepin wollen wissen, ob Musik und Film Hand in Hand gehen? Wie wichtig ist das Zwischenspiel und kann das Eine überhaupt ohne das Andere stattfinden?

Im Live-Stream auf facebook und heute Abend in der FM4 Homebase sprechen wir mit unseren Gästen nicht nur über die Wichtigkeit von Popmusik im Film, sondern davon ausgehend auch über die filmische Darstellung von Themen wie Erwachsenwerden, Migration und der Zukunft des österreichischen Films.