Erstellt am: 30. 3. 2017 - 11:19 Uhr
Löwen im Vorgarten
Am 1. August 1976 stürzt die Wiener Reichsbrücke ein, am 2. November 1978 kehrt der Kosmonaut Wladimir Kowaljonok nach 139 Tagen im Weltall zurück auf die Erde, am 10. Juni 1981 fällt der sechsjährige Alfredo Rampi in einen Brunnenschacht, nach vergeblichen Rettungsversuchen und begleitet von großer medialer Aufmerksamkeit kann er nur noch tot geborgen werden. Es sind solche Ereignisse, an die sich der Musiker (Erstes Wiener Heimorgelorchester) und Autor Daniel Wisser erinnert, wenn er an seine Kindheit zurückdenkt. Diese und andere Ereignisse sind es auch, die den Protagonisten in seinem Roman "Löwen in der Einöde" immer wieder ins Gedächtnis kommen. Allen voran der Hauptfigur mit dem Allerweltsnamen Michael Braun, einem farblosen, passiven Mitvierziger, der wie ein Statist im eigenen Leben herumsteht. Wenn der schweigsame Beamte spricht, erzählt er meistens von solchen Ereignissen aus seiner Jugend, den späten 70ern und 80ern. Sehr zum Leidwesen seiner ehrgeizigen Frau Silvia. Die Ehe droht zu scheitern, vor allem, als ein zweiter Michael Braun auftaucht, ein seltsamer Namensvetter, mit dem Silvia eine Affäre beginnt.
Jung und Jung Verlag
"Löwen in der Einöde" von Daniel Wisser ist im Jung und Jung Verlag erschienen
Perspektivlose Mittvierziger
Daniel Wisser versammelt in seinem dritten Roman perspektivlose Mittvierziger. Figuren ohne Ziele, ohne Utopien, nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, die schlaglichtartig beleuchtet werden: Tamara traut sich nicht, ihrem Exfreund von einer Schwangerschaft zu erzählen, Evelyn droht an ihrer Alkoholsucht zugrunde zu gehen und spricht mit ihrem imaginären Freund, dem verunglückten Brunnenkind Alfredo. Fast wirkt es so, als hätten die Charaktere keine Zukunft, in die sie sich denken könnten, weil sie sich und ihre Umwelt nur über Vergangenes verstehen. "Löwen in der Einöde" wirft Fragen auf. Wie beeinflussen uns die Narrative in den Chroniken der vergangenen Jahrzehnte? Wie wirken sie sich auf uns in der Gegenwart aus? Wisser dazu:
"Es geht weniger um die Geschichtsschreibung als vielmehr um die Chronik und wie die Presse mit solchen Stories umgeht. Weil im Fall von Alfredo Rampi, dem Kind, das in Italien 1981 in den Brunnenschacht gefallen ist, da war es so, wie es bei solchen Chronikereignissen immer ist: Da kommen 170 Fernsehsender, die bleiben 5 Tage an diesem Ort, jeden Tag wird’s groß aufgemacht und ein Jahr später kennt kein Mensch diese Geschichte mehr. Ich glaub auch, dass die Literatur à la longue da immer den Sieg davontragen wird, den Sieg der Prosa über diese Eintagsfliegenkultur der Medien und im Speziellen der Chronik."
Löwen im Vorgarten
Wissers Protagonisten stecken gewissermaßen fest in diesen Ereignissen der Vergangenheit. Doch Michael Braun erinnert sich eines Tages an seine erste große Liebe. Die Nachhilfelehrerin Alies, die mit ihrem cholerischen Mann am Rand eines Dorfes, in der sogenannten Einöde wohnte. Der Weg dorthin war eine Mutprobe für den jungen Braun, denn im Nachbarsgarten hielt sich ein angehender Dompteur zwei Löwen. Während der Nachhilfestunden kamen sich Alies und Braun näher. Dann verschwand Alies eines Tages spurlos und Michael Braun wurde erwachsen. Als der erwachsene Braun aber plötzlich erfährt, dass der Ehemann seiner Jugendliebe gestorben ist, unternimmt er einen viel zu späten Rettungsversuch und begibt sich zum Haus von Alies.
Er suchte nach versteckten Türen oder Abgängen, Verschlägen oder Luken. Er wusste nicht, wie lange seine Suche schon dauerte. Zwei Polizisten standen neben ihm. Man forderte ihn auf, nach draußen zu gehen. Braun verließ das Haus Einöde Nr. 4. Die Mutter stand dünn bekleidet neben dem Polizeiauto. (Seite 116)
Daniel Wisser ist mit "Löwen in der Einöde" ein kunstvoller, intelligenter und kurzweiliger Roman gelungen. Und ohne viel verraten zu wollen, ist das Ende das traurigste Ende überhaupt.