Erstellt am: 28. 3. 2017 - 16:25 Uhr
Stuck in the middle with EU
Lasst mich das hier noch schnell unterbringen, bevor Theresa "safe pair of hands" May morgen den Abzug drückt:
Ihr habt ja alle von der großen Londoner Anti-Brexit-Demo am Samstag gehört. Das kommt daher, dass ihr nicht in Großbritannien wohnt. Dort war nämlich kaum was davon zu erfahren, nicht bloß in der Brexit-fixierten Presse, sondern auch vonseiten der BBC, die ihre magere Berichterstattung online und on air so gut wie möglich versteckte.
Robert Rotifer
Hatte sicher gar nichts damit zu tun, dass sich jüngst 70 Brexit-begeisterte Unterhaus-Abgeordnete in einem offenen Brief beschwert hatten, der öffentlich-rechtliche Rundfunk berichte zu Brexit-skeptisch.
Die BBC antwortete mit einem Bekenntnis zu Ausgeglichenheit und journalistischer Unabhängigkeit.
Als Reaktion darauf kam wiederum die Drohung des Kulturministers John Whittingdale, der BBC für allzu Brexit-kritische Berichterstattung eine Geldstrafe anzuhängen.
Sowas macht in der ältesten bestehenden Demokratie der Welt heutzutage nicht einmal mehr große Wellen.
Robert Rotifer
Vielleicht sollte ich Blogs wie diesen ja wirklich auf Englisch für das Publikum in meiner Wahlheimat verfassen. Das Medien-Blackout brechen, ganz so wie das BBC World Service es in autoritär regierten Teilen der Welt immer so vorbildhaft praktiziert hat.
Einstweilen ist es ja auch nicht so entscheidend, ob es dem Marsch erlaubt wurde, zwischendurch beim Weiterklicken die Münder des permanent enragierten Brexit-Mobs zum Schäumen zu bringen. Wichtiger ist, dass im Nachhinein niemand sagen können wird, keiner habe es besser gewusst.
Robert Rotifer
Als einer, der den Anlauf zum Irak-Krieg miterlebte, erinnere ich mich sehr lebhaft daran, wie Gegner_innen der Invasion als unpatriotisch und politisch naiv verunglimpft wurden. Die Existenz einer Friedensbewegung gab im Nachhinein vielen, die im Konsens mitgeschwommen waren, eine Chance, sich eine schönere, alternative, immer schon kriegsskeptische Vergangenheit zu basteln.
Auch die Anti-Brexit-Bewegung sollte irgendwann in den nächsten Jahren so einen revisionistischen Ausweg in die Kehrtwendung anbieten. Wir rund Hunderttausend (es schienen unzählbar viele, aber ich saß auch nicht im Helikopter oben) sind dann halt für die anderen gegangen. Und sonnig war es eh auch.
Robert Rotifer
Ganz ehrlich muss ich zugeben, der Marsch am Samstag schmeichelte vor allem meiner angeschlagenen Auswandererseele. Zu sehen, dass man so gar nicht allein ist, tut im echten Leben um einiges mehr wohl als online.
Ich kann aber auch nicht anders, als hier ein paar kritische Worte zu verlieren. Nicht etwa, weil ich ausgeglichen wäre, keine Gefahr. Aber eines war schon unübersehbar bei diesem Anti-Brexit-Marsch: Das war unter Garantie die bourgeoiseste Demo, an der ich je teilgenommen hab.
Robert Rotifer
Schon im dicht mit Anti-Brexit-Sentiment gefüllten 9-Uhr-25-Zug von Canterbury nach London, als wir mit ein paar Demonstrant_innen ins Reden kamen, fragte mich eine: "Sind sie ein Akademiker?"
"Nein, ein Journalist."
Wenn Blicke einen mit spitzen Fingern sanft, aber entschieden zur Seite legen könnten...
Da kommt man als Ausländer einmal wo gut an und dann scheitert eine neue Freundschaft daran, dass man nichts Gescheites gelernt hat. Schade.
Robert Rotifer
Das soziale Klima blieb jedenfalls unverändert, als wir schließlich den Marsch erreicht hatten. Ein auf die Park Lane herabfallender Komet hätte mit einem Mal die gesamte Guardian-Leser_innenschaft ausgelöscht.
Und bis wir es zum Parliament Square geschafft hatten, hatte mein sozial mobiler Einwanderer-Chamäleon-Akzent sich dem Zungenschlag der Umgebung entsprechend schon nach Hampstead oder Highgate verabschiedet.
Robert Rotifer
Unter den Redner_innen dort waren dann auch Unterhaus- und Europa-Abgeordnete von Labour, den LibDems, sowie der Vize-Chef der Grünen, allerhand Akademiker_innen und Student_innen, die allesamt die europäischen Werte beschworen und im Großen und Ganzen Wahres über die Bedrohung des Brexit für die Zukunft des Landes und seine Auswirkungen auf dessen gesellschaftliches Klima von sich gaben.
Aber was mir doch schwer abging, war auch nur eine einzige als Working Class erkennbare Redner_innenstimme.
Robert Rotifer
Das spielt eine große Rolle, wie alle wissen, die den jüngsten Ausritt von Brex Pistol Johnny Rotten mitgekriegt haben.
"The working class have spoken", sagte er in seinem Brexit-Bekenntnis auf ITV, nicht bemerkend, dass er in seinen proletarischen Sympathiebekundungen für Nigel Farage und Donald Trump geborenen Patriziern auf den Leim ging.
Überraschung sollte dies nun keine sein, schließlich hat Lydon/Rotten schon seit 20 Jahren (im Zuge seiner revisionistischen Neuerzählung der Sex-Pistols-Laufbahn als Rock'n'Roll-Geschichte reinen Wassers minus Malcolm McLaren und dessen kunstiger Allüren) ähnliche Standpunkte vertreten und dabei stets seine Verachtung für Left-Wingers kundgetan.
Und fraglos werden mir auch diesmal hier wieder loyale Lydonisten erklären, dass ich bloß seinem Sarkasmus nicht folgen könne. Eh wurscht.
So oder so muss ich mich selbst bei der Nase nehmen. Als ich Lydon das letzte Mal vor ungefähr einem Jahr zum Thema Public Image Limited interviewte, hab ich seinen Exkurs zum Thema "Warum Leute, die nicht eingezahlt haben, nicht unser Gesundheitssystem verwenden sollten" einfach rausgeschnitten. Weil das nichts mit der Platte zu tun hatte und Lydons Thesen so offensichtlich von der realitätsverzerrenden Lektüre der britischen Boulevard-Presse inspiriert waren, die seit Jahren einen Kampf gegen das Phantom des Gesundheitstourismus führt.
Wir können dagegen davon ausgehen, dass Lydon nicht den Bericht des Guardian gelesen hat, wonach genau die Gegenden, die am Entschiedensten für Brexit gestimmt haben, am Härtesten davon betroffen sein werden.
Niemand, der wie er stolz seine Working Class Credibility vor sich her trägt (und entgegen diverser Medienberichte glaube ich aus guten Gründen nicht, dass Lydon selbst steinreich und daher ein Heuchler wäre), würde den Guardian auch nur anrühren.
Tatsächlich gibt es derzeit kein einziges an eine Klientel außerhalb des Bildungsbürgertums gerichtetes Medium (außer vielleicht, an guten Tagen, den Daily Mirror), das Argumente gegen Brexit vorbringt.
Und auch in der alten Arbeiterbewegung verwurzelte oder sich zumindest auf diese berufende Teile der britischen Linken waren beim Anti-Brexit-Marsch augenfällig abgängig.
Keine Spur von den sonst so omnipräsenten Plakaten des Socialist Workers, keine Stimme aus der Gewerkschaft auf dem Podium, keine Sichtung von Billy Bragg, der beim "Refugees Welcome"-Marsch am selben Ort vor zwei Jahren noch so eifrig gesungen hatte.
Und schon gar kein Jeremy Corbyn, der damals eigens von seiner Kür als neuer Labour-Chef zur Demo gefahren war. Corbyn fuhr diesmal lieber zum regionalen Parteitag nach Wales (auch eine bezeichnende Entscheidung, diesen zeitgleich zum Marsch abzuhalten).
Das alles ist einerseits ein großes Versäumnis der traditionellen Linken, andererseits auch ein Fehler der pro-europäischen Bewegung in Großbritannien.
Wenn die es nämlich weder schafft noch überhaupt probiert, ihre Agenda über die Grenzen des Bildungsbürgertums hinaus zu kommunizieren, dann wird nach Ausrufen des Artikel 50 der rabiate Nationalismus den Propagandakrieg gewinnen.
Und dann wird's erst wirklich gefährlich.