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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

26. 3. 2017 - 13:10

Diagonale und noch kein Plan? Hier lang!

Am Dienstag beginnt die 20. Diagonale in Graz. Ihr wisst noch nicht was ihr euch anschauen sollt? Wir haben Festival-Empfehlungen!

Oh-oh! Rote Punkte am Spielplan! Die zeigen an, welche Vorführugnen schon ausverkauft sind. Aber das soll einen nicht weiter irritieren. Die Diagonale hat sich vom Cineasten- zum Enthusiastenfestival entwickelt, sagt das Intendantenduo Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber. Kommenden Dienstag eröffnet das Festival des österreichischen Films zum zwanzigsten Mal in Graz. Eine Stunde vor Vorstellungsbeginn direkt in den Kinofoyers tut sich meist noch eine Chance auf Tickets auf. Hier kommen die Empfehlungen aus der FM4-Filmredaktion.

"1000 Takte Film" - empfohlen von Martin Pieper

Der Diagonale Schwerpunkt "1000 Takte Film" zeigt bewegte und bewegende Bilder, die von österreichischer Popmusik in den letzten 50 Jahren gemacht wurden. Viele vergessene und verlorene Filmschätze aus den ORF- und Filmarchiven, kuratiert von Film- und Trashaktivist Paul Poet oder Robert Rotifer sind da zu sehen. Hansi Lang, Rainhard Fendrich oder Chuzpe sind die Protagonisten der Schau.

Apropos Chuzpe, deren Album "1000 Takte Tanz" war Namensgeber der Reihe und just diese Platte spielt eine kleine Rolle in "Neon Mix", einer Frühachtziger TV-Produktion von Günther Brödl. Hauptdarsteller Wilfried (Ziwuiziwui, Highdelbeeren) stolpert da als Werbefuzzi durch eine halbfiktive Wiener New Wave Szene. Zwischen konsumkritischer Satire und unfreiwillig komischer 80er-Jahre-Fernsehspielästhetik bleibt da kein Auge trocken. Vorher und nachher hilft ein Cocktail (eventuell ein „Kaptagon Zitron“ aus dem Film "Malaria"?) bei der Verarbeitung dieser Petitesse aus dem Giftschrank des Fernseharchivs.

Frau mit einer Skibrille - Filmstill aus "Neon-Mix"

Filmarchiv Austria

Wie das alles einmal ausgesehen hat! "Neon Mix" aus dem Special "1000 Takte Film"

Ein Sprung in das Jahr 1993 und man landet bei der Dokumentation "The Bands" von Egon Huemer. Indie-Rockbands wie die Occicdental Blue Harmony Lovers (mit Standard-Musikkritiker Christian Schachinger), Fetish 69 (mit FM4 House of Pain Host Christian Fuchs) oder die Metal-Legende Pungent Stench werden da im tristen schwarz-grau-weißen Licht eines Wiener Winters gefilmt. Gelacht wird nicht viel, das Leben und die Musik ist hart genug. "The Bands" ist ein rares filmisches Dokument einer sterbenden Wiener Indie-Szene, die außer Chelsea, Blue Box und Szene Wien ja "nix ghabt hat" damals und von der elektronischen Musik (Techno/House/HipHop) bald überrollt oder absorbiert wurde.

Fetish 69, Christian Fuchs singend auf der Bühne

Robert Newald

Auf ein Wiedersehen mit Fetish 69

Die erwachende Elektronikszene kriegt zwar auch einen kleinen Auftritt in "The Bands", aber der exstasy-bunten Candywelt der frühen Wiener Technozeit kommt "Tempo" vom späteren Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky wesentlich näher. Auch dieser quietschende Fahrradbotenfilm im Gazometermilieu mit Soundtrack von Pulsinger/Tunakan steht bei 1000 Takte Film am Programm. Lasst uns bei dieser Diagonale so tun, als wäre Hauptdarsteller Xaver Hutter doch ein richtiger Teenie-Filmstar geworden.

Post-Pop-Geschichten - empfohlen von Christoph Sepin

Post-Pop-Geschichten: Ein Zug fährt durch die japanische Metropole Tokyo, die Kamera ist mittendrin. Es gibt kein Ziel, es gibt nur Weg. Vorwärtsbewegen, eben, und es geht immer weiter. Passenderweise heißt der Kurzfilm des österreichischen Musikers Wolfgang Möstl auch "Durchgang", ein surrealer Ausflug durch Musik und Visuals, durch Hyperrealität und verwaschene Momentaufnahmen. Und dann endet das Ganze auch noch mit Fahrstuhlmusik.

Wolfgang Möstl mit Pickerl über seinen Augen, Filmstill aus "Durchgang"

Wolfgang Möstl

Wolfgang Möstl in "Durchgang"

Popkultur ist eben nicht mehr so leicht einzuordnen, "guilty pleasures" gibt es nicht mehr und so richtig echt ist eh auch nichts mehr im Zeitalter der Post-Ironie. Deswegen muss sich die Diagonale auch nicht dafür schämen, *NSYNC genauso im Programm zu haben, wie Bilderbuchs "Maschin". Denn wenn man ein Special veranstaltet, das das Unwort "Pop" schon im Titel hat, dann haben Berührungsängste keinen Platz. Und wenn man feststellt, dass das *NSYNC-Video zu "Tearin’ Up My Heart" eben deshalb vor Stefan Ruzowitzkys "Tempo" läuft, weil beide Produktionen vom selben Regisseur stammen, dann bekommt das Ganze gleich eine neue Bedeutung. Everything is context, everything’s a remix and a copy of a copy of a copy.

Wundertüte Kurzfilmprogramm - empfohlen von Jan Hestmann

Kurzfilmprogramme! Die Wundertüten eines Filmfestivals und alljährliches Highlight. Zwei Kurze an dieser Stelle ans Herz gelegt: In "Wannabe" von Jannis Lenz startet die 17-jährige Coco einen eigenen Youtube-Channel. Inhalt egal, hauptsache Fame. Das stellt sich am Ende aber als gar nicht so einfach heraus. "Wannabe" ist ein Hybrid aus Film und Youtube-Channel, mit einer wunderbaren Protagonistin (Anna Suk). Eine dynamische und glaubwürdige Momentaufnahme der Gegenwart.

Nicht weniger turbulent, ergänzt um eine Extraportion Nervenkitzel, geht es in "Fucking Drama" von Michael Podogil zu. Es beginnt ganz gesittet, wenn auch etwa skurril, mit einer Theater-Performance in einem Kellerlokal. Und schaukelt sich schließlich auf zu einem…naja, siehe Titel. Mehr darf man schon gar nicht vorwegnehmen. Anschauen!

Abseits der Kurzen erwarte ich mit besonderer Spannung Nina Kusturicas "Ciao Chérie", der gänzlich in einem kleinen Call-Shop in Wien Ottakring spielt. Der von Telefonkabinen und blinkenden Lichtern dominierte Ort wird zur Verbindung in die Welt. Intime Telefonate erzählen Geschichten über die durch große Ferne getrennten Telefonierenden, wobei wir die Menschen am anderen Ende der Leitung nie zu Gesicht bekommen. Eine Weltreise als Kammerspiel.

Intime Konfrontationen - empfohlen von Anna Katharina Laggner

Ich bin ein Fan von Selbstporträts und bewundere, wenn es jemandem gelingt, die Grenze zwischen Privatem und Persönlichem so auszureizen, dass ein Funken Intimität überspringt, der die Betrachterin/den Betrachter beim eigenen Selbst packt. Diesbezüglich ist "Was uns bindet" von Ivette Löcker ein verstörendes Stück Kino. Die Regisseurin - sie lebt in Berlin - hat gemeinsam mit ihren zwei Schwestern zwei Häuser im Lungau geerbt. Eines davon ist ein altes unbewohntes Bauernhaus, unter dessen Innenvertäfelung sich schwarzer Schimmel breit gemacht hat.

Im zweiten Haus wohnen Löckers Eltern in einem unerträglichen Arrangement von Trennung unter demselben Dach. Die Regisseurin wusste vermutlich selbst nicht genau, wonach sie sucht, als sie begonnen hat, das Antreten des Erbes mit der Kamera zu begleiten. Was sie findet, sind keine Leichen im Keller (die gibt es nämlich in dieser dramatischen Form in den wenigsten Familien), sondern das, was es in den meisten Familien gibt: dass man über die banalsten Fakten nicht vernünftig sprechen kann.

Da steht man mit Mundschutz, weißem Wegwerf-Overall und frustriertem Blick vor der Schimmelpilzgefahr und der Vater sagt, man solle nicht überdramatisieren, was nicht notwendig ist. Und worum geht es? Darum, irgendwo zuhause zu sein. Zuhause in dem Sinne, dass man als ganzer Mensch wahr- und angenommen wird und als ganzer Mensch wahr- und annehmen kann. Stattdessen beschleudert man sich in den meisten Familien mit den Projektionen der eigenen Schwächen, unerfüllten Wünschen und Verletzungen, so dass ein heilloses, zur Flucht gemahnendes Wirrwarr entsteht. Wie gerne man hätte, dass die eigene Familie ein Zuhause ist, auch davon erzählt "Was uns bindet".

Hardcore-Doku und schöne Trips - empfohlen von Maria Motter

Viel lieber als eine Doku über Brunhilde Pomsel würde ich mir eine Doku über Eva Loewenthal, deren einstige Freundin, anschauen. Aber die eine wurde die Sekretärin eines der mächtigsten Nationalsozialisten und zwar von Propagandaminister Joseph Goebbels, und 106 Jahre alt. Eva Loewenthal wurde 1943 in Ausschwitz ermordet. Bevor Brunhilde Pomsel im Vorjahr starb, gab sie mehrere Interviews. Ihre Erzählung über sich prägt den Dokumentarfilm "Ein deutsches Leben". Ja, auch dieser ihrer Erinnerung sollte man sich aussetzen.

Kontrastprogramm dazu ist "Langsamer Sommer" von John Cook. Man spürt die Hundstage, wird wie high von der Sonne von diesem Film. Schwarzweiß und gedreht 1976, ist "Langsamer Sommer" ein eigenwilliger Trip.

Pop goes the Diagonale, so does the Street Cinema Graz: Donnerstagabend wirft das Street Cinema Graz Musikvideos für "From disco to disco" an die Häuserwände. Danach geht's ins HdA zur Party, wo man sich Film-Stills und Set-Fotos von einer Wäscheleine pflücken und tanzen kann - #DurchDieNacht’17!