Erstellt am: 26. 3. 2017 - 10:55 Uhr
Disziplin und Schikane
Tagwache! Das ist der unangenehme, viel zu frühe Ruf, fröstelnd das Bett zu verlassen und sich dienstfertig zu machen. Tagwache! Das ist der immer erneut aufreibende Ruf, den der Kommandant seinen Rekruten entgegenschreit, Tag für Tag, Jahr für Jahr.
FM4 Buch
Mehr Literaturtipps gibt es hier.
Robert Hütter hatte eigentlich nicht vor, zum Bundesheer zu gehen. Ein mit den Folgen von Drogendelikten verschleiertes Elternhaus, der Absturz in den Alkohol und die Einsamkeit haben ihn aber nach einem neuen Leben sehnen lassen, und die Ordnung, die er suchte, fand er beim Heer. Wir lernen Hüttner als den perfekt konditionierten, schon fast übertrieben neurotisch seinen Tagesablauf einhaltenden, verheirateten Mann kennen.
Wachtmeister Robert Hütter erwachte um nullfünfhundertvierzig, küsste seine sich neben ihm herumwälzende Frau Antonia auf die Wange und erhob sich mit den üblichen drei Ächzern.
Die drei Ächzer von Hütter sind genauso vorprogrammiert wie seine dreiminütige Dusche, sein an Omega 3-Fettsäuren angereichertes Frühstück, seine Morgenzigarette und seine Begrüßung durch die Rekruten in der Kaserne.
Siebenundzwanzig „Morgen“ später saß Hütter planmäßig auf der Toilette.
APA/ANDREAS PESSENLEHNER
Wortspiele 2017
Im Rahmen des "Internationalen Festivals für junge Literatur" liest Jakob Pretterhofer am 31.3. im Wiener Porgy & Bess aus seinem Debütroman.
Mehr Informationen zu den Wortspielen gibt es hier.
Mit jeder neuen Einheit, die in die Kaserne einzieht, prallt Hütters geordnetes Leben auf das noch sehr ungeordnete, nicht zielgerichtete Dasein vieler seiner Rekruten. Doch heuer gibt es eine besondere Auffälligkeit: Thomas Lampl, einer von Hütters neuen Auszubildenden, ist ein ungeschickter, in sich gekehrter Außenseiter. Gleich zu Beginn vergisst er, seine ABC-Schutzmaske in seinen Rucksack zu packen, was für ihn und seine Kollegen eine Dienstverlängerung ins Wochenende hinein bedeutet. Ein Vorfall, der sein Leben ändern wird.
In seiner Gruppe hörte er es unter den Rekruten zischen. Der Lampl wird nie mehr etwas vergessen. Das werden die ihm beibringen. Sehr gut, dachte Hütter, das würde ihnen allen eine Lehre sein.
Natascha Unkart
Jakob Pretterhofer macht es sich aber nicht so leicht, seine Figuren schwarz-weiß, geteilt in Gut und Böse, zu zeichnen. „Tagwache“ ist kein burgenländisches Full Metal Jacket, auch wenn Stanley Kubricks Vietnamkriegs-Epos obligatorisch abends in der Kasernenbar läuft. Die Vorsitzenden sind streng, aber im Grunde genommen in Ordnung, Hütter ist ein pingeliger Kommandant, aber korrekt. Er versucht, die Disziplin aufrecht zu erhalten. Und unbedingt den letztjährigen Vorfall zu verhindern, als ein junger Rekrut sich in einem Hochstand an der ungarischen Grenze das Leben genommen hat.
Vielmehr sind es Lampls Kollegen, die beginnen, sich zu rächen, der Gruppendynamik unterlegen und mitgerissen, ob sie einzeln nun davon überzeugt sind, oder nicht. Es beginnt mit harmlosen Lausbubenstreichen wie dem Zukleben seines Spinds, steigert sich aber schnell in Missbrauch, Gewalt und psychische Schikane.
luftschacht
"Tagwache", der Debütroman von Jakob Pretterhofer, erscheint im luftschacht Verlag.
Jakob Pretterhofer, 1985 in Graz geboren, studierte 2005 bis 2012 Drehbuch an der Filmakademie Wien. Er ist unter anderem Preisträger des Carl-Mayer-Drehbuchwettbewerbs 2011.
Lampl hingegen ist einsam. Nicht nur, dass seine Freundin Miriam, die überhaupt wenig Interesse an ihm gehabt zu haben scheint, ihn schließlich fallen lässt. Auch zu seinen Eltern hat er keinen wirklichen Draht, das Kinderzimmer mit den Matrix-Postern an der Wand ist nicht mehr das Zuhause, das es einmal war. Die Kaserne muss als Übergangslösung herhalten, und das ist eigentlich das Schlimmste an der Geschichte. Lampls Einsamkeit steigert sich in der Kaserne, obwohl umgeben von Kameraden und auch im Zimmer zumehrt eingepfercht, noch weiter. Ob er Schuld war oder nicht, die Gruppe braucht einen Sündenbock, und mit dem zierlichen, mit „piepsender Stimme“ ausgestatteten Lampl scheint der perfekte gefunden. Es ist keine neue Geschichte, aktuell ist sie trotzdem.
Lampls Vornamen erfährt man erst nach vielen Seiten, als über dessen Privatleben berichtet wird. Das ist kurz richtig überraschend: Diese Person hat ja auch einen Vornamen, ein Leben außerhalb der vier Mauern der Kaserne, dessen Individualität aber sechs Monate ausgeblendet wird.
Spannend bleibt „Tagwache“ bis zum Schluss: Welche Rädchen im Getriebe Kommandant Hütter mit Lampls erster Bestrafung losgetreten hat, wird ihm erst später klar.
Er war zu hart oder zu weich gewesen, zu kleinlich oder zu nachgiebig. Und so wurde geschossen und liegen geblieben, verleumdet und verteidigt, aufgeklärt und unter den Teppich gekehrt.
Wehrpflicht heute
In Deutschland verzichtet man bereits seit 2011 auf die Wehrpflicht – ausgenommen im „Spannungs- oder Verteidigungsfall“. Die aktuell brisanteste Geschichte zu diesem Thema kommt aus Schweden: eigentlich 2010 abgeschafft, soll die Wehrpflicht ab 1. Juli des heurigen Jahres für Männer und auch für Frauen gelten. Bei der letzten Volksabstimmung zur Wehrpflicht in Österreich stimmten 2013 59,7 Prozent für die Beibehaltung derselben.
Kurz nach der Volksbefragung aber, nämlich ab 2014, lassen sich erste neue Rekorde der Zivildieneranzahl messen. Vier von zehn wehrfähigen jungen Männern entscheiden sich gegen das Heer.