Erstellt am: 23. 3. 2017 - 13:22 Uhr
Der Mythos Teetrinken
Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren, sagt der Bürgermeister. London lässt sich nicht einschüchtern, London macht unbeirrt weiter, London trinkt weiter Tee, sagt jede Londoner Stimme in jedem Londoner Soundbite und verkündet auch eine weiße Tafel am Abgang zu jeder Underground-Station.
Selbst wenn sich nachher herausstellt, dass das x-mal weiter-getweetete und -instagrammte Bild ein Fake war.
Dazu folgende Replik aus meiner Timeline:
Das Mantra vom britischen Stoizismus, es hat viele Abwandlungen und heißt nicht wirklich viel.
Wenig überraschenderweise kann sich niemand in London leisten, heute nicht zur Arbeit zu gehen.
Wenig überraschenderweise geht für die, die bei der gestrigen Gewalttat selbst nicht zu Schaden kamen, das Leben weiter.
Und ja, er macht mich sogar ein klein wenig wütend, dieser Stolz auf die eigene Tapferkeit, denn jenes "Whatever you do to us" in den Worten des ersten Schilds ist schon auch eine gehörige Anmaßung.
Schließlich hat man "uns" offensichtlich nichts angetan, sonst säßen "wir" jetzt nicht beim Photoshoppen am Schreibtisch.
Die steife Oberlippe eines/r selbst nicht Betroffenen macht noch kein Heldentum, im Gegenteil, sie verrät eher einen Mangel an Mitgefühl mit den tatsächlichen Opfern.
Was in London allerdings möglicherweise doch höher entwickelt ist als anderswo, ist die Fähigkeit, dem Mythos der eigenen Unbeugsamkeit mit knochentrockenem Sarkasmus zu kontern, trefflich zusammengefasst in meinem bisherigen heutigen Lieblings-Tweet:
Anders als in Berlin zeigte oben erwähnter Bürgermeister Sadiq Khan gestern keine Scheu, das Wort "Terrorist" zu verwenden.
Man kann darüber streiten, ob das eine kluge Entscheidung ist, schließlich verleiht es dem Attentäter ein politisches Gewicht, das ihm, sofern es sich "bloß" um einen geistig umnachteten Gewalttäter handelt, nicht zusteht.
Und es verleiht allen psychopathischen Besitzer_innen eines Führerscheins und eines Messers die Lizenz, sich eine Antiheldenrolle als Teil der großen terroristischen Bedrohung anzumaßen.
Aber täte Khan das nicht, würde die Presse ihn als Muslim augenblicklich unter besonderen Druck setzen, es zu tun. Und eine erneute Diskussion über seine Loyalität, wie sein Gegenkandidat Zac Goldsmith sie voriges Jahr im Bürgermeisterwahlkampf schürte, würde weder Khan, noch der Stadt, sondern nur den Rassist_innen da draußen nützen.
Immerhin vermeidet Khan von anderen in ähnlichen Umständen gebrauchte Phrasen vom "Krieg gegen unsere Lebensart".
Interessanterweise sagte er heute morgen dafür, dass es keinen Platz für Verschwörungstheorien geben könne, schon gar nicht für solche "die sagen, die Juden sind an allem Schuld" - ein wichtiger Wink an jene, auch (aber bei weitem nicht nur) innerhalb der moslemischen Minderheit in London, die sich vom medialen Narrativ entfremdet haben und stattdessen lieber antisemitische Theorien spinnen.
Und natürlich weiß Khan auch genau, was er tut, wenn er sein Preisen der angeblich so unerschütterlichen Londoner Einigkeit mit der nicht unbedingt prüfungsresistenten Feststellung krönt, London sei "die großartigste Stadt auf der Welt."
Schließlich muss man den Leuten auch ein Ideal bieten, um welches sie sich scharen können. Der soziale Zusammenhalt kann diese Rolle in dieser zutiefst fragmentierten Stadt sicher nicht spielen, da braucht es schon einen Schuss Lokalpatriotismus.
Eines fiel mir da allerdings beim Blick auf meine zugegebenermaßen gar nicht repräsentative Timeline auf: Das Gegenstück zum Eiffelturm-Friedenszeichen mit französischer Flagge sind nicht etwa Big Ben und Union Jack, sondern diverse Abwandlungen des Underground-Roundel, das wahre, alle ihre Einwohner_innen einende Wappen der Stadt.
Was indessen in der medialen Echokammer der Rolling News mit ihren endlosen, einander gegenseitig befütternden Spekulationen und geloopten Horrorbildern unterging, war dieses sehr notwendige Statement der Islamic Society of Britain. Die immer geforderte Distanzierung der moslemischen Community, sie könnte deutlicher nicht sein:
Islamic Society of Britain
Heute Abend wird am Trafalgar Square eine Mahnwache stattfinden. Als sichtbare Geste der Solidarität, wie sie mittlerweile zum traurigen Ritual solcher Geschehnisse gehört.
Der für Samstag geplante March for a United Europe, die Demo gegen Brexit und für die Rechte der EU-Ausländer_innen, soll übrigens trotz des Attentats weiterhin stattfinden, siehe dieses Statement der Veranstalter:
Unite for Europe March