Erstellt am: 22. 3. 2017 - 13:10 Uhr
Ich habe einen Traum
Ich habe immer geträumt, singen und Gitarre spielen zu können. In der vierten Klasse haben mir meine Eltern eine Gitarre gekauft und mich zum Gitarrenunterricht geschickt. Ich habe es nie über das Kinderlied-Niveau „Kikeriki kleiner Hahn“ hinaus geschafft. Der Lehrer hat versucht, meine Eltern zu überreden, ich hätte Talent, es wäre aber gut versteckt. In Wahrheit aber war ich sein einziger Schüler und er hatte Angst, sein Einkommen zu verlieren.
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Mit Akzent
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Ich hab das mit der Gitarre sein lassen, sie verlangte zu viel Übung. Ich widmete mich dem Singen. Wir gründeten eine Band. In der Band gab es nur eine Person, die Noten lesen konnte. Meine damalige Freundin, die Geige spielte. Das Schlimme war, dass mein Singen lauter als die Geige war. Ich habe schnell begriffen, dass ich schlecht singe - und unsere Band wurde zur Punkband. Von nun an musste ich schreien. Nach den Konzerten (in unserer Bandkarriere waren es insgesamt drei) habe ich die Leute aus dem Publikum gefragt, ob sie die Botschaft meiner Lyrics verstanden hätten. Denn wie ein echter Frontman schrieb ich die Lyrics selbst. Die Gefragten fragten zurück, in welcher Sprache die Lieder eigentlich seien. Sie hatten den tiefen Sinn meines Geschreis nicht erkennen können. Das traumatisierte mich und ich hörte mit dem Singen auf. Bis vor einem Monat.
In Kuba singen alle. Sie warten in der Schlange und singen. Sie warten immer und überall in der Schlange, deshalb singen sie auch die ganze Zeit. Ich versuchte zu verstehen, wie es die Hausfrauen in fortgeschrittenem Alter schaffen, in den Schlangen zu stehen und „Que tu amor se ha marchitado, Porque existe otro querer...“ zu singen. Ihr Alter war nicht das Problem. Sie sangen „Dos Gardenias“ trotz der Misere und der Diktatur, die nicht weggeht, trotz der leeren Geschäfte. Ihr Lied war ihre Rettung. Ich starrte sie an und eine davon umarmte mich. Die anderen lachten und sangen weiter. Plötzlich fing ich an mitzusingen. Was hatte ich zu verlieren? „Dos gardenias para ti, Con ellas quiero decir, Te quiero, te adoro, mi vida...” So sang ich und am Ende applaudierte die ganze Schlange. Ich habe mich noch nie so geschmeichelt gefühlt.
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Leider war meine liebe M. um die Ecke, um irgendwelche grün-rosa Häuser zu fotografieren, und verpasste diesen historischen Augenblick. Ich traf sie nach zehn Minuten wieder und erzählte ihr die Geschichte, aber sie wollte mir nicht glauben. Das Geschäft war wegen der Mittagspause geschlossen und die Damen in der Schlange waren weg. Ich versuchte wieder zu singen, doch aus meinem Mund kam das übliche Geschrei heraus. Der Augenblick, als mein Traum wahr geworden war, war vorbei. Das passiert meistens mit den Träumen. Egal, ob ich Kuba wieder besuche und das Geschäft wieder finde, ich werde nie wieder singen.