Erstellt am: 19. 3. 2017 - 22:16 Uhr
Zum Tod von Chuck Berry
Die Todesnachricht von Chuck Berry kam zu mir wie in einem Fiebertraum. Seit Tagen ringe ich mit einer Angina. Im Bett wälze ich das Schlachtfeld, zu dem mein Körper geworden ist. Der Doc hat Ruhe und Pillen verschrieben. Ich ernähre ich mich von Soletti und Penicillin. Der Schädel brummt. Der Rachen brennt. Tee ist Öl aufs Feuer. Ich verdämmere TV-Serien im Laptop, bemerke aber doch, dass "Westworld" viele Poren öffnen kann. Kein Schlaf wechselt mit kaum Schlaf. Kleine, nebensächliche Gedanken bauen sich zu Ungetümen auf, die stundenlang durchs Bewusstsein loopen. Ein Infekt ist kein Urlaub. Man verwechselt das im Zustand der Gesundheit nur oft.
![© APA/AFP/Jean-Christophe Verhaegen Chuck Berry](../../v2static/storyimages/site/fm4/20170311/chuck_berry_tot_body01_ap_4744630_body.jpg)
APA/AFP/Jean-Christophe Verhaegen
Memphis, Tennessee
Long distance information, give me Memphis, Tennessee
Help me find the party trying to get in touch with me. She could not leave her number, but I know who placed the call. 'Cause my uncle took the message and he wrote it on the wall.
Help me, information, get in touch with my Marie. She's the only one who'd phone me here from Memphis, Tennessee. Her home is on the south side, high up on a ridge. Just a half a mile from the Mississippi bridge.
Help me, information, more than that I cannot add. Only that I miss her and all the fun we had. But we were pulled apart because her mom did not agree. And tore apart our happy home in Memphis, Tennessee.
Last time I saw Marie, she was waving me goodbye
With hurry-home drops on her cheek that trickled from her eye. Marie is only 6 years old, information, please. Try to put me through to her in Memphis, Tennessee.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag dann die Todesnachricht über den Social-Media-Feed. Der Unkaputtbare und Ewigtourende ist nicht mehr. Chuck Berrys Präsenz hat sich so tief ins Bewusstsein des Pop eingeschrieben, dass man schon nicht mehr wusste, ob er tatsächlich noch lebt oder bereits gestorben ist, ob er sich aus dem Aktiven zurückgezogen hat oder ob er noch immer unverdrossen durch die Welt tourt, wie er es die Jahrzehnte davor auch getan hatte. Und ob das abseits des real lebenden Menschen überhaupt noch eine Bedeutung hat bei diesem Vermächtnis. Chuck Berry lebt, for sure.
Erst im vergangenen Oktober wurde der Mann in Fleisch und Blut 90 Jahre alt. Der 1926 in Missouri geborene Charles Edward Anderson „Chuck“ Berry hat zwar nicht den Rock’n’Roll erfunden, wie jetzt in vielen Nachrufen zu lesen ist, weil viele den Rock'n'Roll erfunden haben. Aber er hat dessen Körper geformt mit seinen Gitarren-Intros, Riffs, Licks und Hooks und natürlich den Soli. Prägender kein anderer war. Abgesehen davon war Mr. Berry ein begnadeter Songwriter, der uns Dutzende R'n'R-Klassiker hinterlassen hat.
Als ich zur Bestätigung des traurigen Status-Updates auf die Website der New York Times surfte, passierte etwas Verblüffendes. Chuck Berry war tatsächlich tot. Es war kein Fiebertraum. Dass so etwas überhaupt möglich sein kann, dürfte die Kollegen von der Weltzeitung ebenfalls kalt erwischt haben. Nach wenigen einleitenden Worten zu Leben und Schaffen wurde man um etwas Geduld gebeten, man arbeite noch am vollständigen Nachruf. Und dass von einer Publikation, die vermutlich von jedem Kinderstar eine fertige Grabesrede in der Schublade liegen hat, nur so zur Sicherheit.
Dieser kleine Faux Pas zauberte ein erstes Lächeln in mein teigiges Gesicht. Das zweite ließ nicht lange auf sich warten. Ich tippte bei YouTube meinen Lieblingssong von Chuck Berry in das Suchfeld: „Memphis, Tennessee“.
Den Song hatte ich das erste Mal als Kind gehört und zwar in der Version von Elvis. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mich der Track bereits nach wenigen Takten hatte. Das gedoppelte Drum-Intro von D.J. Fontana und Buddy Harman, der hallende Sound der Gitarrenfigur, die so flott in Bewegung war und an einen dieser viel besungenen US-Züge auf seiner Fahrt durch die Weiten des Landes erinnerte (was sich beim späteren Hören des Originals zu meiner Freude als richtiges Bild herausstellte).
Das alles setzte zwischen meinen kleinen Ohren eine ungeheuerliche Sehnsucht frei. Darüber die Stimme von Elvis, die eine ambivalente Stimmung ausdrückte. Es ist ein Flehen, das euphorisierend wirkt, ein süßer, fast eleganter Schmerz, der nicht zu Ende gehen will. Es muss ein fantastischer Ort sein, dieses Memphis, dachte ich mir. Und dann fragte ich mich, ob sie dort wohl diese Zigaretten herstellen, die es beim Greißler an der Straße zu kaufen gibt. Und wer war wohl Marie, deren Namen in dem Song auftauchte, eines der wenigen Wörter, die ich verstand?
Lautmalerischer Kauderwelsch wurde nach einigen Schuljahren zum Englisch Verstehen. Memphis zur Bibelstelle und größten Stadt des US-Bundesstaates Tennessee. Es stellte sich heraus: Diese Marie war keine Flamme, die es zu erobern galt, wie in den meisten anderen Rock'n'Roll-Songs der Fünfzigerjahre. Diese Marie war ein Scheidungskind und der Ich-Erzähler der Papa, der auf der Suche nach seiner verlorenen Tochter war und deshalb die Telefonvermittlung um eine Verbindung nach Memphis bat. Dieser Umstand offenbart sich aber erst im letzten Vers des Songs.
Und genau das war die große Kunst, der lyrische Kniff des Texters Chuck Berry. Mit wenigen Worten konnte aus einem vermeintlichen Brunftlied ein kleines Sozialdrama werden. Das allein macht nun keinen besseren Song, aber es machte aus „Memphis, Tennessee“ einen sehr viel besseren Song.
Shakespeare des Rock'n'Rol
Der Mann, der im Entengang über die Bühne watschelte und die E-Gitarre als zentrales Instrument der Rockmusik etablierte, erhielt auch Literaturpreise und wurde von Bob Dylan als „Shakespeare des Rock'n'Roll“ bezeichnet. Eine unterbelichtete Facette im Schaffen des Chuck Berry, wie der Autor und Journalist Peter Guralnick in einem Portrait anlässlich des 90. Geburtstages anmerkte. Und doch war Berry einer, der sich selbst vornehmlich als Businessman sah. Er war in den Fünfzigern angetreten, den neu enstandenen Markt der Teenager mit Produkten zu bedienen, wie er in Interviews freimütig zugab.
„Memphis, Tennessee“ erschien 1959 als B-Seite der Single „Back in the U.S.A.“, die für damalige Berry-Verhältnisse kein großer Hit war (Platz 36, US-Billboard). In den frühen Sechzigerjahren stürzten sich eine Reihe von Interpreten auf den Song, der es 1964 in der schrofferen Version von Johnny Rivers bis auf Platz 2 der US-Charts schaffte. Elvis coverte „Memphis, Tennessee“ 1963 in einer Zeit größter künstlerischer Not, eingeklemmt zwischen Soundtrack-Verpflichtungen und lächerlichen Rollen in lächerlichen Filmen. Er brauchte den Song, um wieder mit sich ins Reine zu kommen.
Elvis war tief berührt von der Deepness der Lyrics und legte all seinen Schmelz in den Vortrag, der oberflächlich gehört, einer Happy-Go-Lucky-Tonalität entspricht. Er hatte sich in einem raren Moment gegen den Willen seines übermächtigen Managers Tom "Colonel" Parker gestellt, der ausschließlich Soundtrack-Material forderte. So hatte die kleine Marie dem strauchelnden King zumindest für einen kurzen Moment wieder auf die Beine geholfen, um es etwas kitschig zu formulieren.
„Memphis, Tennessee“ wurde zu einem der meist gecoverten Chuck-Berry-Songs. Von der Frühzeit der Beatles existieren heute mehrere Versionen. Andere Interpreten waren Roy Orbison, Count Basie, The Animals, John Cale und die Stones. Eine Up-Beat-Instrumentalversion von Lonnie Mack rollte 1963 auf Platz 5 der US-Charts.
Auch ich möchte mich für den Spark bedanken, Mr Berry. I'm gonna be good tonight.